Warum wir nicht mehr regelmäßig aus dem „Gruppe S“-Prozess in Stuttgart berichten werden

Von der „Gruppe S“-Prozessbeobachtungsgruppe (veröffentlicht am 1. März 2023)

Das Rechtsterrorismus-Verfahren gegen die sogenannte „Gruppe S“ vor dem Oberlandesgericht Stuttgart, das am 13. April 2021 startete, ist ein noch größerer Mammutprozess geworden, als wir es ohnehin schon erwartet hatten. Bis Jahresende 2022 fanden 113 Prozesstage statt – und es ist kein Ende in Sicht. Der Senat hat bereits Termine bis in das Jahr 2024 hinein bekanntgegeben.

Wir können und werden 2023 und 2024 nicht mehr wie zuvor jeden einzelnen Hauptverhandlungstag besuchen.

Ein Rückblick

Wir haben bislang einiges erfahren: über die Rolle des Angeklagten und „Spitzels“ Paul-Ludwig U., über die auf der Anklagebank versammelten Neonazis, Reichsbürger, radikalisierten Kleinbürger, Betrüger und vermeintlich Zukurzgekommenen. Und über extrem rechte „Bruderschaften“ wie die „Bruderschaft Deutschland“, das „Freikorps Heimatschutz“ und die „Vikings Security“, in denen sich auch viele nicht-klassische Neonazis tummeln, die wir aber für nicht minder gefährlich halten. Im Gegenteil: Wir halten die aufgeflogene Truppe um Werner S. für hochgefährlich. Und wir gehen davon aus, dass es viele vergleichbare Gruppen gibt, die bisher unbemerkt blieben.

In der Auseinandersetzung mit den Angeklagten und deren Netzwerk finden sich viele Aspekte wieder, deren Bedeutung und Brisanz aus Analysen der militanten und terroristischen Rechten bekannt sind. Das geht vom Streben nach soldatischer Männlichkeit, Männerbündelei, autoritärem Führerkult über die Affinität zu Waffen bis hin zu Menschenverachtung, Verschwörungserzählungen vom „Volkstod“, Vernichtungsfantasien und Mordbereitschaft. Eine Bagatellisierung von Chats mit derartigen Inhalten als Geschwätz eines Online-Stammtisches halten wir für höchst problematisch.

Das laufende „Gruppe S“-Verfahren basiert u.a. auf den dramatischen Behauptungen des Angeklagten Paul-Ludwig U., die sich in der Beweisaufnahme zumindest teilweise nicht bestätigt haben. Das baden-württembergische LKA und die Bundesanwaltschaft haben U. nie wie einen normalen Beschuldigten behandelt. Formell war er zwar tatsächlich kein V-Mann, aber die angebliche Option darauf plus Zeugenschutz und viel Aufmerksamkeit waren die Karotten vor seiner Nase. Der Soko-Leiter soll ihn bezeichnenderweise „Kronbeschuldigter“ genannt haben. Paul-Ludwig U. ist jedoch keineswegs nur Objekt von Manipulation, sondern auch handelndes Subjekt. Er ist bereits, ähnlich wie bei zwei Gruppen zuvor, mit einer klaren Erwartungshaltung in die Gruppe um Werner S. gegangen, nämlich dass hier rechtsterroristische Anschläge geplant würden. Im Netzwerk von S. lag er damit offenbar nicht falsch, weil hier zumindest einige tatsächlich etwas Derartiges vorgehabt haben dürften. Mittlerweile rudert U. zurück und bekundet, dass von den Angeklagten nie eine Gefahr ausgegangen sei. Und er chillt in den Mittagspausen mit denjenigen Mitangeklagten, die bereits aus der U-Haft entlassen wurden.

Wieder einmal führt das Festhalten des Generalbundesanwalts und der Sicherheitsbehörden am V-Personen-, Quellen- und Informantenwesen nicht zu einer realistischen Einschätzung der Bedrohung durch rechten Terror und einer erfolgreichen Bekämpfung desselben. Im „Gruppe S“-Verfahren trifft dieses Desaster auf die Verharmlosungen, die (wenig verwunderlich) von Seiten der Angeklagten und ihrer Verteidiger*innen vorgebracht werden.

Warum wir nicht mehr jeden Prozesstag dokumentieren

Wir halten eine antifaschistische Prozessbeobachtung und eine eigene antifaschistische Analyse weiterhin für sinnvoll – das war die Hauptmotivation für uns, bisher über hundert Tage im Gerichtssaal durchzuhalten. Und in dem Prozess schlummern vermutlich auch noch weitere Skandale und Informationen, z. B. zu Thorsten K., der offenbar V-Mann des Verfassungsschutzes ist/war, und zur extrem rechten Multiaktivistin Marion G.

Dennoch werden wir nicht mehr an jedem Prozesstag nach Stuttgart-Stammheim fahren. Weitere eineinhalb Jahre lückenlose Prozessberichterstattung sind weder mit unserer dünnen Personaldecke noch mit den zur Verfügung stehenden Mitteln leistbar. Mit Blick auf zu erwartende Rechercheerkenntnisse sehen wir zudem den Aufwand, an jedem Verhandlungstag im Stammheimer Gericht zu sitzen, während zeitgleich andere Prozesse unbeobachtet bleiben, nicht mehr als vertretbar an. Wir werden uns deshalb zukünftig auf ausgewählte Prozesstage konzentrieren.

Ihr möchtet uns personell oder finanziell unterstützen?

Solltet ihr euch eine zuverlässige Unterstützung bei der Prozessbeobachtung vorstellen können, bereiten wir euch gerne darauf vor, z.B. im Rahmen eines Prozessbeobachtungsworkshops.

Ihr möchtet für die weitere Prozessbeobachtung spenden?

Dann nutzt hierfür das folgende Konto und Stichwort:

Kontoinhaber: apabiz e.V.
IBAN: DE46 1002 0500 0003 3208 03
BIC: BFSWDE33BER
Verwendungszweck: Gruppe-S-Prozessbeobachtung

Selbstverständlich werden wir in den kommenden Monaten noch die ausstehenden Berichte/Protokolle der von uns 2022 besuchten Verhandlungstage veröffentlichen und euch weiterhin – insbesondere über Twitter – nach Kräften auf dem Laufenden halten.

Comments are closed.