Am 34. Prozesstag (5. Oktober 2021) gegen die rechtsterroristische „Gruppe S“ wurde der Zeuge Dr. Joachim W. (62) vernommen. Er hatte als Facharzt für Psychiatrie 1997 eine Stellungnahme und 2000 ein Gutachten über Paul-Ludwig U. erstellt. Auch an diesem Verhandlungstag ging es um die Glaubwürdigkeit und die Schuldfähigkeit von Paul-Ludwig U., auf dessen Aussagen ein großer Teil der Anklageschrift basiert. Ihm wurde von Dr. W. eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. An viel konnte sich der Zeuge nicht mehr erinnern. Aber U. sei durch seine Ambivalenz und Inszenierungen aufgefallen. Nach der Mittagspause wurden drei Telekommunikationsüberwachungen (TKÜ) vom 13. Februar 2020 abgespielt, also am Tag vor der Razzia gegen die „Gruppe S“. In einem der Gespräche plante Michael B. mit Marcel L. aus Ellwangen eine neue Gruppe bzw. einen Stammtisch in Bayern und Baden-Württemberg („Gruppe Süd“). Die Initiative dazu ging von Michael B. aus. In einem anderen Telefonat regten sich Michael B. und ein „Basti“ darüber auf, dass die Deutschen „keine Eier mehr“ hätten, und regen sich über Politiker auf. Michael B.: „Aber wir werden es nicht vergessen. Der Tag wird kommen.“
Zu Beginn des Verhandlungstags ist der Vorsitzende Richter (VR) ungehalten. Wegen eines Staus beginnt die Verhandlung fast eine Stunde verspätet, und der VR muss Paul-Ludwig U. vor dem Gebäude suchen und ihn hereinzitieren. Das sei „eine Frechheit sondergleichen“. Er fordert U. auf, sein Verhalten zu ändern, und droht, man könne auch einen Haftbefehl erwirken. Anschließend verkündet der VR, dass der Antrag der Rechtsanwälte (RA) Becker und Hofstätter auf sofortige Vernehmung des Sachverständigen Dr. Winckler abgelehnt wird.
Nun nimmt der Zeuge Dr. Joachim W. Platz, der vor vielen Jahren ein Gutachten über Paul-Ludwig U. erstellt hatte. Der Psychiater berichtet, er arbeite seit April 2002 im Maßregelvollzug in Stendal, dem zentralen Maßregelvollzug des Landes Sachsen-Anhalt. Dort sei er ab 2009 ärztlicher Direktor gewesen. Er habe vor einem oder anderthalb Jahren ein Schreiben von U. bekommen, nach 20 Jahren ohne Kontakt. In diesem Schreiben habe ihm U. in „bedrohlichem Ton“ unterstellt, Fehler gemacht zu haben. U. habe angekündigt, er werde das mit seinem RA aufarbeiten, und W. werde noch von ihm hören, er solle sich schon mal „auf etwas gefasst machen“. Den Brief habe er psychohygienischen Gründen vernichtet.
Der Zeuge gibt an, er könne sich nur noch grob an U. und dessen Vorgeschichte erinnern. Er wisse noch, dass U. viele Anträge gestellt und wieder zurückgezogen habe. Diese Ambivalenz sei ihm noch in Erinnerung. Der VR hilft W.s Gedächtnis auf die Sprünge und hält vor, W. habe das erste Schreiben, in dem U.s Name aufgetaucht sei, am 11. Dezember 1996 erhalten. U. sei am 13. März 1997 zu sechseinhalb Jahren verurteilt worden. Er habe bei U. eine „Persönlichkeitsstörung mit dissoziativer Persönlichkeit und narzisstischen Anteilen“ diagnostiziert.
U. in Haft: Suizidversuch, Geiselnahme, Befreiungsfantasien
W. erinnert sich, dass U. wegen einer Geiselnahme an einem Beamten in Haft gewesen sei. Der Polizist habe U. von einem Suizidversuch abgehalten und sei daraufhin als Geisel genommen worden. Auch erinnert sich W. an eine Erzählung von U.: Mithäftlinge hätten geplant, teure Zahnarzt-Gegenstände zu stehlen und dann in Osteuropa zu verkaufen. U. habe deren Namen genannt und gesagt, die Polizei wisse Bescheid. Der Zeuge kann sich jedoch nicht erinnern, jemals wieder Hinweise auf einen solchen Fall gehört zu haben.
Nun liest der VR aus einem Schreiben von 1997 vor: Die Integration von U. in die Patientengesellschaft sei „mehr als schwierig“. Es habe handgreifliche Auseinandersetzungen und Körperverletzungen gegen Mitpatienten gegeben. In Gesprächen könne sich U. von seinem Verhalten nicht distanzieren. Es habe auch verbale Entgleisungen und Tötungsfantasien gegeben.
Im Jahre 2000 schließlich wurde der Zeuge beauftragt, ein Gutachten über U. anzufertigen. Dafür habe er ihn in der JVA Werl zweimal exploriert, berichtet er. In Gesprächen sei U. oft ausufernd gewesen und habe kein Ende gefunden. Insgesamt sei er eine nach Aufmerksamkeit heischende Person. U. habe in Gesprächen nur wenig eigene Anteile an Konflikten anerkennen können und stattdessen das Personal als schuldig an seiner Impulsivität betrachtet. Außerdem habe er unter Stimmungsschwankungen gelitten. In der Selbstdarstellung gegenüber Mitpatienten habe U. versucht, sich als erfahrener Knastbruder darzustellen. Der Zeuge ergänzt: U. sei im Team als schwierig bekannt gewesen, und als einer, der sich im Vergleich zu seinen Mitpatienten als etwas Besseres gefühlt habe. Diese habe er abgewertet, unter anderem indem er einen von ihnen als „Viech“ beleidigt habe.
„Die Grenzen zwischen realer Welt, Anspruchsdenken und Inszenierung“
Aus einem Text verliest der VR noch eine Einschätzung über U.: Dieser laufe leicht Gefahr, die Grenzen zwischen realer Welt, Anspruchsdenken und Inszenierung zu verwischen. Bei Widerspruch erfolge durch ihn eine heftige Gegenrede. Der Zeuge bestätigt diesen Eindruck: U. sei seine Wirkung auf andere wichtig, sogar wichtiger als andere Ziele. Daher hätten sich U.s Wünsche und Anträge teils sehr widersprochen.
Weiter zitiert der VR: „Gelingt Herrn U. eine weitere Inszenierung, dann bestärkt ihn das in der Überzeugung eigener Grandiosität und Einzigartigkeit.“ Der Zeuge kommentiert, das liege an der histrionischen und narzisstischen Persönlichkeitsstörung von U.
Der VR fasst zusammen, wie es mit U. und dem Zeugen nach dem ersten Aufeinandertreffen weitergegangen sei.Zwischen 1996 und 1997 hätten sie einander mehrmals gesehen. Dann sei U. in den Strafvollzug gewechselt, woraufhin die beiden nur noch für das Gutachten im Januar und Februar 2000 in der JVA Werl miteinander Kontakt gehabt hätten. Obwohl U. am 16. Juli 2001 wieder zurück in die Eickelbacher Forensik verlegt worden sei, habe W. den Zeugen nicht noch einmal getroffen.
Verteidigung: U. manipuliert und strebt nach Aufmerksamkeit und Einzigartigkeit
Nach dieser Befragung haben die Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit zur Stellungnahme. Frank H.s Verteidiger RA Herzogenrath-Amelung und Marcel W.s Verteidiger RA Miksch betonen, U. gehe es um Aufmerksamkeit. RA Miksch fügt hinzu, U. begehre Einzigartigkeit. Es bestehe nicht nur das Potenzial, sondern auch der Wille zur Manipulation.
RA Mandic, Verteidiger von Michael B., argumentiert ähnlich: Es kristallisiere sich heraus, dass U. damals über „erhebliche Manipulationsfähigkeiten“ und „überdurchschnittliche Intelligenz“ verfügt habe. Es stelle sich die Frage: „Haben die Behörden ihn instrumentalisiert oder er sie?“ Vorstellbar sei, dass U. die Behörden hinters Licht geführt habe.
Michael B.: „Ich habe das Ganze beschissen vernachlässigt“
Nach Abschluss der Befragung des Zeugen W. folgt die Präsentation des Mitschnitts eines Telefonats zwischen Michael B. und Jürgen N. vom 13. Februar 2020. N. sagt darin über Paul-Ludwig U.: „Der Typ war mir von Anfang an suspekt.“ Er fragt, wie man sich jemanden „ins Haus holen“ könne, der solch sinnlose Straftaten wie eine Geiselnahme begehe. Für ihn sei U. ein „durchgeknallter Psychopath“. Michael B. pflichtet ihm darin bei, dass die Geiselnahme sinnlos gewesen sei. Und für seinen Verrat [an der „Gruppe S“] müsse U. Konsequenzen zu spüren bekommen. Dann erwähnt Michael B. die Entscheidung von Werner S., auszusteigen [aus seinen (politischen) Aktivitäten in Deutschland]. S. habe ein Statement verschickt, in dem er sich auskotze. B. sagt auch, er habe sich bei Werner S. auf der Mailbox dafür entschuldigt, dass er nicht nach Hamburg zum Treffen gekommen sei, weil er zu viel zu tun habe. Werner S. habe sich darauf nie zurückgemeldet.
Danach spielt der VR eine weitere Aufnahme ab. Es handelt sich um ein Telefonat vom Abend des 13. Februars 2020 zwischen Michael B. und Marcel L. aus Ellwangen. Michael B. erklärt darin, er habe sich wegen Existenzängsten rausziehen müssen. Er habe „das Ganze beschissen vernachlässigt“. Dann sprechen sie über Paul-Ludwig U., und auch in diesem Telefonat kommt Unverständnis für dessen Aufnahme in die Gruppe auf, angesichts des Charakters und der Vorgeschichte von U. Marcel spricht auch den Diebstahl an, den U. beim Treffen in Thomas N.s Haus begangen haben soll.
Michael B. wechselt das Thema; offenbar denkt er darüber nach, eine Süd-Gruppe zu gründen. Er selbst halte sich lieber im Hintergrund. B. sagt, „die Gruppe“ [vermutlich die Telegram-Chatgruppe „Netzwerk BW / BY“] sei weg. Deswegen fragt er L., ob er noch die Nummer von Marco habe. B. tauscht sich mit L. über weitere mögliche Mitglieder für das neue Projekt aus. Vorerst will B. „mit dir, Jürgen, Basti und mir“ starten, später aber mehr Personen aufnehmen. Als sie überlegen, wer noch als Mitglied in Frage käme, kennen sie von einigen Personen allerdings nur die Online-Pseudonyme, nicht aber die tatsächlichen Namen. B. verkündet, er werde Jürgen fragen, der die Namen kennen könnte. Notfalls könne man auch Werner S. fragen, mit dem er bereits über die Idee gesprochen habe, einen „Stammtisch im Süden“ einzurichten. S. habe er gesagt: „Ich bin nur Standby“, aber man könne auf ihn zählen.
B. plante offenbar, eine „Gruppe Süd“ zu gründen
Solche regionalen Gruppen hält Michael B. für vorteilhaft: „Was bringt es mir denn, nach Hamburg zu fahren?“ Es sei sinnlos, eine Gruppe aufzubauen, deren Mitglieder über das ganze Land verstreut seien. „Die Gruppe [Chatgruppe „Heimat“] ist ok, aber sie nervt mich auch.“ Lieber sei ihm, wenn man sich alle fünf, sechs Wochen regional treffe, die Handys weglege und dann offen reden könne. Marcel L. sagt darauf, den Norden decke das „Freikorps“ ab.
Im Anschluss an dieses Audio können die Verfahrensbeteiligten Erklärungen abgeben. RA Herzogenrath-Amelung legt Wert auf eine Unterscheidung zwischen der im Telefonat geplanten Südgruppe und den Angeklagten: In dieser neuen Gruppe seien Leuten, die nicht in Minden gewesen seien. Das zeige die Distanz zu anderen Gruppen.
RA Berthold legt das Telefonat so aus, dass sein Mandant Michael B. als Prepper eine eigene „Gruppe Süd“ habe aufbauen wollen, die der Organisation von Prepping-Treffen dienen sollte. Sein Mandant habe keine Ahnung gehabt, was in Minden besprochen werden sollte oder besprochen worden sei.
Paul-Ludwig U.: „Der mit dem Kawumm“
Nun spielt der VR eine weitere Aufnahme aus der Telekommunikationsüberwachung ab; diesmal handelt es sich um ein Gespräch zwischen Michael B. und „Basti“, ebenfalls vom Abend des 13. Februars 2020. Eingangs erklärt Michael B., dass die Chat-Gruppe „Bayern-BaWü“ gelöscht worden sei. Dann kommt er auch Basti gegenüber auf Paul-Ludwig U. zu sprechen. „Da war so ein Spitzeltyp“, erzählt er; „Basti“ habe U. ja auch schon kennengelernt. [Vermutlich beim Hummelgautsche-Treffen] Und tatsächlich scheint sich Basti zu erinnern: „Der mit dem Kawumm?“ B. bejaht, und berichtet, U. sei auf dem Treffen gewesen, habe gestohlen und sei ein Spitzel.
Auch mit „Basti“ spricht B. über den Plan, eine neue Gruppe zu gründen. Er denke an einen Stammtisch, der alle fünf oder sechs Wochen stattfinden solle, entweder in der Kneipe von Jürgen in Pforzheim oder in einer in Ellwangen, also bei Marcel. Eine regionale Gruppe sei gut, argumentiert B., er habe nämlich weder Geld noch Zeit, um ständig hunderte Kilometer zu fahren. Daher mache er lieber etwas mit „den Jungs aus meiner Ecke“.
Bei einem kurzen Exkurs zur AfD-Spendenaffäre erklärt „Basti“, die AfD wäre ohne Spenden nie so groß geworden. Die „guten Leute“ in der Partei seien alles Schwaben, wie beispielsweise Boehringer. [Peter Boehringer ist einer der Hardliner der AfD gegen die EU, gegen Corona-Maßnahmen und gegen offene Grenzen.]
Michael B.: „Wir werden es nicht vergessen. Der Tag wird kommen.“
Anschließend sinniert „Basti“, es dauere, bis „die kritische Masse mal aufsteht“. Dann lobt er seine Region: Er kenne einige Türken in seinem Freundeskreis, die seien „wertvoller als Norddeutsche“. „Wir hier in Schwabenland erziehen die [Türken] wenigstens.“ Er kenne viele Türken, die eine Firma hätten oder Ingenieure seien. Danach sprechen die beiden über Politiker*innen, was Michael B. mit „Wir werden es nicht vergessen. Der Tag wird kommen“ kommentiert.
Als nächstes Thema besprechen B. und „Basti“ die Online-Kommunikation. B. erwägt, ob man für wichtige Themen nicht Onlinespiele [bzw. deren Chats, um Überwachung zu umgehen] als Kommunikationsbasis nutzen sollte. „Basti“ antwortet, er habe da „ein gutes Spiel für sowas“.
Michael B. fasst zusammen: Es soll ein altbewährter Stammtisch werden. Die neue Chatgruppe dafür solle „Süd“ heißen. Dafür soll ihm Werner S. noch die Nummern geben, die in der gelöschten „Bayern-BaWü-Gruppe“ gewesen seien. Bei dem Stammtisch habe er keine Lust auf „diese ganzen Parolen und Bilder“. Er brauche nicht die Empörung über jeden Flüchtling und jedes Politiker-Zitat. B. macht sich über rechte Aufschneiderei in Chats lustig. „Basti“ stimmt zu: Deswegen habe er sich aus diesen Gruppen verabschiedet.
Michael B. kündigt an, er wolle aber auch richtige Treffen durchführen. Er habe so etwas schon mal mit 12 bis 14 Leuten in Kirchheim [unter Teck] gemacht. Ein Freund habe dort ein Lokal, und man habe sich Stockwerk über diesem getroffen und sei bedient worden. Er habe Lust auf ungezwungenere Treffen mit Musik, auf denen man nicht nur diskutiert. „Basti“ kündigt an, er sei dabei. Er will wissen, wer Jürgen ist. B. antwortet: Das sei ein kleiner Glatzkopf, der bis zum Hals tätowiert sei. Den treffe er auch beim Arbeiten. Jürgen sei ein „Survivaltyp“ und gehe bald wieder in den Wald. Im Gegensatz zu diesem Jürgen möchte Michael B. Marco offenbar nicht aufnehmen, „außer er kommt auf mich zu und sagt: Ich hab’s geschnallt, ich will was tun.“
Damit endet dieses Telefonat, und der VR fragt nach Erklärungen. RA Berthold weist darauf hin, dass über U. als der mit dem „Kawumm“ gesprochen worden sei. Zudem erklärt er, dass Michael B. in den Telefonaten viel über Politik geredet habe und eine „Gruppe Süd“ habe bilden wollen, aber ohne konspirative Inhalte.
Der VR kündigt an, den Prozesstermin kommenden Donnerstag aufzuheben, sowohl aus organisatorischen als auch aus gesundheitlichen Gründen. Dann beendet er den heutigen Verhandlungstag.