Prozesstag 96: Der „unbefangene Beamte“, der die freundschaftlichen Vernehmungen U.s ausbügeln sollte

Am 96. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ am 6. Oktober 2022 wurde der Kriminaldirektor Alexander S. (52) befragt. Er war einer von zwei Beamten, die am 16. und 17. April 2020 den Angeklagten und Dauer-Hinweisgeber Paul-Ludwig U. vernommen hatten. Der eigentlich damals im Bereich Islamismus tätige Polizist Alexander S. wurde zusammen mit einem Kollegen beauftragt, U. zu vernehmen. Die bereits durchgeführten Vernehmungen reichten der Behörde offenbar nicht aus, da die vernehmenden Beamt*innen bereits seit Monaten U.s Kontaktpersonen im LKA Baden-Württemberg gewesen waren und in ihren „unstrukturierten“ Verhören immer wieder eine recht enge, teils freundschaftlich wirkende Beziehung auffiel. Die erneute Vernehmung durch den Zeugen des heutigen Prozesstages wurde per Video aufgenommen und bereits als Beweisstück im Verfahren abgespielt. Im Prozess wurde vom Zeugen erstmals die Wortneuschöpfung „Kronbeschuldigter“ für U. erwähnt. Laut dem Zeugen stammte der Begriff vom Soko-Leiter. Das Wort ist offenbar kein feststehender juristischer Begriff. Der Zeuge bestätigte die vor Gericht bereits gezeigte Videoaufnahme und machte kleine Ergänzungen. In der zweitägigen Vernehmung hatte Paul-Ludwig U. noch einmal über das Treffen an der Hummelgautsche, das Treffen in Minden und vermeintliche oder tatsächliche Terror-Pläne ausgesagt. Insgesamt ergab dieser Prozesstag nichts Neues.

Thomas N.s Verteidiger Sprafke beantragt eine Unterbrechung, da er am 4. Oktober 2022 eine Verfügung vom Vorsitzenden Richter (VR) erhalten habe und sich mit seinem Mandanten Thomas N. beraten wolle. Der VR weist den Antrag zurück, woraufhin RA Sprafke einen Senatsbeschluss beantragt. Der VR bittet um Stellungnahmen. Oberstaatsanwältin (OStAin) Bellay beschwert sich über den Antrag des RA Sprafke: Sie halte das für ein „Kasperletheater“. Man vergeude „wieder 15 Minuten unserer Zeit“. Sie verweist darauf, dass es auch die Zeit der Inhaftierten sei: „Da sitzen Leute in Haft.“ Dieser Hinweis führt zu allgemeiner Empörung im Saal, auch bei den Angeklagten, die ihr das Eintreten für sie offenbar nicht abnehmen. Michael B.s RA Mandic lobt, dass Sprafke gegen den VR „vorgeht“. Der VR legt eine kurze Pause ein und verkündet danach, dass der Senat den Beschluss des VR bestätigt habe. Dann lässt er den Zeugen Alexander S. eintreten.

S. stellt sich als Kriminalbeamter vor und sagt, er habe eine Aussagegenehmigung. Seit September 1990 sei er Polizist. Damals habe er im mittleren Dienst angefangen. Im Jahr 1994 sei er nach Ludwigsburg gewechselt und u.a. für den Staatsschutz tätig gewesen. Ab 1998 habe er in Villingen-Schwenningen studiert. Seit 2002 arbeite er im gehobenen Dienst im Innenministerium, seit 2010 für das LKA im Bereich Terrorismus und Ausländerkriminalität. Seit August 2020 sei er Leiter der Staatsschutz-Führungsgruppe zum Thema Islamismus. Auf Nachfragen des VR gibt der Zeuge an, er habe nur zweimal mit dem Thema Rechtsterrorismus Kontakt gehabt und sei nie bei der Soko Valenz gewesen. Anfang April sei der Kollege G. auf ihn zugekommen und habe ihn gebeten, eine Videovernehmung durchzuführen.

Das LKA fand die bisherigen Vernehmungen „zu unstrukturiert“

Der VR fragt, ob es Ziel gewesen sei, jemanden ohne Vorkenntnisse dazu zu holen. Der Zeuge bejaht. Man habe die bisherigen Vernehmungen von Paul-Ludwig U. für „zu unstrukturiert“ gehalten. Er habe nur „sehr, sehr rudimentäre“ Vorkenntnisse gehabt. Er habe gewusst, dass es einen „Kronbeschuldigten“ gab, habe aber dessen Namen nicht gekannt. Zur Vorbereitung auf das Verhör hätten er und sein Kollege T. Ordner bekommen.

Der VR möchte wissen, was der Zeuge über die zeugenschutzähnliche Maßnahme bei Paul-Ludwig U. wusste. Der Zeuge gibt an, keine Details gekannt zu haben. Gefragt nach dem bei der Vernehmung verwendeten Fragenkatalog sagt der Zeuge, dieser sei von der Sachbearbeiterin S. in Abstimmung mit der GBA erstellt worden. Er habe am 16. April 2020 erstmals Kontakt mit Paul-Ludwig U. gehabt. Die zweitägige Vernehmung habe im Polizeipräsidium in Stuttgart stattgefunden. Kurz nach 9 Uhr sei ihnen Paul-Ludwig U. übergeben worden. Der Kollege T. habe U. zur Eigensicherung durchsucht. U. habe wegen der zeugenschutzähnlichen Maßnahme seine Adresse nicht genannt. Die Fragen hätten er und sein Kollege T. gestellt, wobei der Zeuge laut eigener Aussage für die Themen Hummelgautsche-Treffen und Berlin sowie Bewaffnung zuständig war. Außerdem seien im Technikraum der Kriminalhauptkommissar B. und Frau Sch. gewesen.

In der folgenden Befragung gleicht der VR Teile des Videoverhörs mit den Erinnerungen des Zeugen ab. Besonders wichtig sind gezeigte Fotokataloge und Schriftstücke, die im Video nicht immer erkennbar waren. Häufig geht es darum, ob dem Zeugen die 13er-Bildermappe [Beschuldigte] oder die 22er-Bildermappe [übrige Verdächtige] vorgelegt wurde.

Insgesamt habe er, so der der Zeuge, U. als kooperativ wahrgenommen und nicht das Gefühl gehabt, zwei Tage lang belogen worden zu sein. Viele Dinge seien schlüssig gewesen.

Befragung von Kriminaldirektor Alexander S. (52) durch die Verteidigung

Anschließend stellt die Verteidigung ihre Fragen. Frank H.s RA Herzogenrath-Amelung möchte wissen, was er damit meinte, dass bisherige Vernehmungen Schwächen gehabt hätten. Der Zeuge antwortet, dass U. von Vernehmungsbeamten geduzt worden sei. Der RA fragt weiter, wie Paul-Ludwig U. beim LKA tituliert worden sei, und der Zeuge antwortet mit „Kronbeschuldigter“.

Tony E.s RA Becker erkundigt sich nach dem Ordner zur Vorbereitung auf die beiden Videovernehmungen. Der Zeuge sagt, er und sein Kollege hätten einen identischen Ordner erhalten. Er habe ihn bei der Befragung im Raum bei sich gehabt. Den Ordner habe er später an den Sachbearbeiter der Inspektion 610 [gehört zur Staatsschutz-Abteilung des LKA Baden-Württemberg] zurückgegeben. Der RA fragt, warum er ausgewählt worden sei, und der Zeuge nennt Neutralitätsgründe. Man habe „unbefangene Beamte“ gesucht. Daraufhin fragt der RA, ob etwas vorgefallen sei, weswegen die vorangegangenen Beamte als befangen angesehen sein könnten. Der Zeuge sagt, so etwas sei im Vorfeld kein Thema gewesen. Außerdem erwähnt er einen Beamten aus der Soko Valenz, der bei der Vernehmung dabei gewesen sei, sich aber im Hintergrund gehalten habe.

Der „emotionale Schulterschluss“ zwischen U. und seinen LKA-Kontaktbeamten

Marcel W.s RA Picker fragt, was im Ordner gewesen sei. Der Zeuge nennt u.a. den Haftbefehl gegen Werner S. Weiter fragt der RA, was der Zeuge denn mit dem „emotionalen Schulterschluss“ in den Befragungen U.s gemeint habe. Der Zeuge erklärt, anders als seine Vorgänger hätten er und seine Kollegen keine Bindung zu Paul-Ludwig U. gehabt. Die Befragung sei formell und stringent erfolgt.

Marcel W.s zweiter Verteidiger Miksch möchte wissen, ob es in der Befragung auch um das Mitführen der Waffe in Heidelberg gegangen sei. „Nicht im Detail“, antwortet der Zeuge. Der RA zitiert Paul-Ludwig U.: „Ich habe allen Behörden gesagt, dass ich eine Waffe dabeihabe.“ Der Zeuge kommentiert, das LKA Baden-Württemberg habe dazu wohl ermittelt.

Werner S.‘ RAin Klein fragt den Zeugen, wie er sich auf die Befragung heute vorbereitet habe. Dieser erwidert, dass er einen Vermerk von Herrn T. geholt und kursorisch nochmal drüber gelesen habe.

Wortneuschöpfungen für den Ausnahmefall U.: Ein „Kronbeschuldigter“ in einer „zeugenschutzähnlichen Maßnahme“                                                                                           

Wolfgang W.s RAin Rueber-Unkelbach fragt, wann der Begriff „Kronbeschuldigter“ eingeführt worden sei. Der Zeuge sagt, dieser stamme vom Soko-Leiter L. Weiter fragt die RAin den Zeugen, wie er vor Paul-Ludwig U. als schwierigem Zeugen gewarnt worden sei. Alexander S. erklärt, dass ihm mitgeteilt worden sei, dass Paul-Ludwig U. „sehr schwierig zu vernehmen“ sei. Die RAin erkundigt sich, was dem Zeugen vom Vorleben von Paul-Ludwig U. bekannt gewesen sei. Dieser erinnert sich, dass U. 20 Jahre im Gefängnis verbracht und einen Polizisten als Geisel genommen habe. Markus K.s RAin Schwaben fragt, ob er gehört habe, dass U. in der Psychiatrie gewesen sei, was der Zeuge verneint. Außerdem möchte die RAin wissen, wie viele „Kronbeschuldigte“ dem Zeugen in seinem Leben begegnet seien. Der Zeuge sagt, bei Betäubungsmittel-Delikten habe er einige „31er“ gehabt. [In Paragraf 31 regelt das Betäubungsmittelgesetz, dass ein Täter eine mildere oder gar keine Strafe erhalten kann, wenn er aussagt.] Dabei habe er mit Beschuldigten zu tun gehabt, die bei der Polizei über ihren eigenen Tatbeitrag hinaus Angaben gemacht hätten.

Die RAin fragt weiter nach seinen Erfahrungen mit „zeugenschutzähnlichen Maßnahmen“. Der Zeuge antwortet, er habe mit Zeugenschutz- und Opferschutz-Maßnahmen zu tun gehabt. Weiter fragt die RAin, warum er nicht interveniert habe, als Paul-Ludwig U. seine Adresse nicht nannte. Der Zeuge erwidert, er habe gewusst, dass die GBA und die Soko-Leitung involviert gewesen seien.

Zeuge sieht Fehler in den Vernehmungen durch die Kolleg*innen

RA Mandic fragt, was man mit der erneuten Vernehmung U.s durch den Zeugen habe gewinnen wollen. Der Zeuge erwidert, er habe sie durchgeführt, weil er damit beauftragt gewesen sei. Der RA hakt nach, ob er sich nicht mal selbst die Frage nach dem Warum gestellt habe. Der Zeuge gibt an, ihm reiche es, „wenn mein Vorgesetzter mir den Auftrag gibt, weil es bei den bisherigen Vernehmungen Fehler gegeben hatte“. Außerdem möchte Mandic vom Zeugen wissen, ob er noch einmal mit dem Kollegen G. gesprochen habe, nachdem dieser ihn mit der Videobefragung U.s beauftragt hatte. Der Zeuge antwortet, G. habe gefragt, wie die Vernehmung gelaufen sei. Weiter fragt der RA, ob es Thema gewesen sei, dass die alten Vernehmungen zu wenig Belastendes zu einzelnen Personen hergegeben hätten. Der Zeuge verneint das. Der RA möchte nun wissen, ob der Zeuge wusste, dass U. eine zweite Waffe besessen habe. Der Zeuge erinnert sich an die eine Waffe, die sie an dem Nachmittag sichern hätten lassen. Man habe die Waffe aus dem Gewässer beschlagnahmt. [Paul-Ludwig U. hatte sie dort versenkt und der Polizei verraten, wo sie sie finden würde.] Er habe nicht gewusst, dass Paul-Ludwig U. für Waffenbesitz zu zehn Monaten Haft verurteilt worden sei. RA Mandic fragt auch, ob der Zeuge Parteimitglied sei. Er sei Mitglied der CDU, antwortet dieser.

Michael B.s RA Berthold fragt, woher der Zeugen wusste, dass bestimmte Polizeibeamte U. positiv wahrgenommen hätten. Der Zeuge antwortet, das habe U. in einer Vernehmung gesagt. Der RA zitiert aus dem Protokoll, man brauche „keine epischen Ausführungen“. Warum hier sein Kollege interveniert habe. Der Zeuge sagt, das wisse er nicht. Der RA fragt nach einem externen Berater der Soko. Der Zeuge benennt Joachim M., einen pensionierten Kollegen.

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