Prozesstag 95: Wolfgang J. aus Aschaffenburg: Zu depressiv für rechten Terror

Am 95. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ in Stuttgart-Stammheim am 4. Oktober 2022 wurde der pensionierte Polizeibeamte Dietmar H. (62) befragt. Er war einer von zwei Polizisten, die am 29. April 2019 erstmals den späteren Angeklagten und Dauer-Hinweisgeber Paul-Ludwig U. vernommen hatten. U. hatte sich bei der Polizei gemeldet, weil er Angaben über angeblich geplante Anschläge auf Moscheen machen wollte, die ein Wolfgang J. aus Aschaffenburg plane. Mit Wolfgang J. sei Paul-Ludwig U. zehn Tage zuvor über die Facebook-Gruppe „Die Unbeugsamen“ in Kontakt gekommen. Tatsächlich wurden die Ermittlungen gegen Wolfgang J. später eingestellt, u.a. weil sich zeigte, dass dieser durch eine schwere Depression offenbar kaum handlungsfähig war. Die Erzählung von geplanten Anschlägen auf Moscheen und die Ermordung von Muslimen taucht hier also bereits in Bezug auf andere Personen auf. Denselben Vorwurf erhob dann Paul-Ludwig U. später auch gegen die „Gruppe S“.

Der Zeuge stellt sich vor als Dietmar H. (62), seit dem 1. Juli 2021 Hauptkommissar im Ruhestand. Er habe im April 2019 mit dem damaligen Hinweisgeber und Beschuldigten Paul-Ludwig U. zu tun gehabt. Damals habe er am Polizeipräsidium Heilbronn im Bereich politisch motivierte Kriminalität von rechts gearbeitet. Vor seiner Versetzung nach Heilbronn habe er 30 Jahre beim BKA in Stuttgart gearbeitet.

Dietmar H. erklärt, dass er sich an der Vernehmung von Paul-Ludwig U. am 29. April 2019 beteiligt habe. Am 26. April 2019 habe sich Paul-Ludwig U. am Telefon bei der Polizei in Heilbronn gemeldet. Kollegen hätten ihn weiterverwiesen mit der Ankündigung, sie hätten jemanden, der Angaben über „Anschläge auf Moscheen“ machen wolle. Davor habe er Paul-Ludwig U. nicht gekannt. U. habe sich beklagt, dass Anschläge geplant seien und sich niemand dafür interessiere.

Paul-Ludwig U. berichtete am 29. April von 11.30 Uhr bis zum 14.15 Uhr in Heilbronn in einer Vernehmung von seinen angeblichen Beobachtungen. Der Zeuge gibt an, dass man Paul-Ludwig U. mit dem Auto von Mosbach abgeholt und zurückgefahren habe. Im Auto habe Paul-Ludwig U. seine Lebensgeschichte erzählt. Ob eine Schreibkraft die Vernehmung protokollierte, weiß der Zeuge nicht mehr.

Wolfgang J. wollte laut U. „so viele Moslemschweine wie möglich töten“

Der VR zitiert aus dem Vernehmungsprotokoll: Paul-Ludwig U. habe über einen Freund, dessen Namen er hier nicht nennen wolle, Zugang zu der geschlossenen Facebook-Gruppe „Die Unbeugsamen“ mit 2.800 Mitgliedern erhalten. Der Zeuge gibt an, Paul-Ludwig U. habe von Wolfgang J. erzählt und gesagt, ihr Kontakt sei vertraulicher geworden. In Telefonaten sei Wolfgang J. konkreter geworden: Man plane Brandanschläge auf Moscheen und wolle Moslems töten. J. habe außerdem zu den islamistischen Anschlägen auf Kirchen auf Sri Lanka [Ostersonntag 2019] gesagt: „Was die können, können wir auch.“ Man wolle „beim Freitagsgebet so viele Moslemschweine wie möglich töten“. Der Zeuge gibt an, Paul-Ludwig U. sei zum Schein darauf eingegangen, um den Strafverfolgungsbehörden Informationen zur Verfügung zu stellen. Bei einer Zusammenkunft im Juni sollten laut U. Ziele festgelegt werden. U. habe auch angegeben, zum Imam von Mosbach Kontakt aufgenommen zu haben.

Außerdem sei laut U. für den 1. Mai 2019 von Jonny L. eine Maifeier geplant gewesen. Paul-Ludwig U. habe daran teilnehmen wollen und man habe ihm gesagt, er gehe da nicht auf Weisung der Polizei hin.

Dietmar H. hielt U. für glaubwürdig

Der VR fragt, ob U. sagte, dass er seine Behauptungen belegen könne. Der Zeuge weiß es nicht mehr. Er habe Paul-Ludwig U. grundsätzlich für glaubhaft gehalten. Da U. so sehr gehustet habe, habe er vermutet, dass er nur noch wenige Monate zu leben habe und deswegen aussagte. Bei so einer Information wäre Nichtstun falsch gewesen. Gefragt nach U.s politischer Einstellung erklärt der Zeuge, U. habe keinen Hehl daraus gemacht, dass er mit der damaligen Asylpolitik nicht einverstanden war.

Bei der Spiegelung von U.s Handys habe es technische Schwierigkeiten mit dem Internet-Zugang gegeben. Man habe Daten aus dem Handy fotografisch gesichert, aber keine Spiegelung vorgenommen. Der Zeuge berichtet, man habe U.s Handy nicht längere Zeit einbehalten können, weil dieser es für seine Kontakte gebraucht habe.

Paul-Ludwig U. habe zu dieser Zeit laut dem Zeugen keine Erwartungen in Bezug auf seinen Status gehabt („überhaupt nicht“). Man habe aber diskutiert, ob er Zeugenschutz erhalten solle, aber er wisse nicht, wie da weiter verfahren worden sei. Die Frage sei ihnen abgenommen worden.

Wusste der Verfassungsschutz, dass U. beim LKA aussagte?

Der Zeuge berichtet, wegen der Informationen über Wolfgang J. habe er Kontakt mit dem Staatsschutz in Aschaffenburg aufgenommen. Später habe er erfahren, dass die Staatsanwaltschaft Würzburg die Ermittlungen übernommen habe. Die Dienststelle dort habe um Bilder vom Handy von Paul-Ludwig U. gebeten, die man ihr am 30. April 2019 per Kurier geschickt habe. Man habe auch Informationen an eine Dienststelle in Gießen [vermutlich das ZK 10, den dortigen Staatsschutz] weitergeleitet und an das LKA „mit der Bitte um Steuerung“. Den Verfassungsschutz habe man nicht kontaktiert. Der VR zitiert aus einer Aussage von Paul-Ludwig U.: Der Verfassungsschutz habe sich bei ihm gemeldet und gefragt, warum er zur Polizei gegangen sei. Der Zeuge weiß nicht, wie diese Information an den Verfassungsschutz gelangt sein könnte.

Gefragt nach weiteren Kontakten zu Paul-Ludwig U. gibt der Zeuge an, er sei noch einmal nach Mosbach zu ihm gefahren, um dessen Handy zu spiegeln.

Die Richterin Dr. Geist fragt nach Personen, die Paul-Ludwig U. neben Jonny L. noch auf der Feier zum 1. Mai treffen wollte. Der Zeuge benennt einen Klaus E.

Befragung des pensionierten Hauptkommissar Dietmar H. durch Rechtsanwält*innen

Der Sachverständige Dr. Winckler (SV) fragt, was Paul-Ludwig U. über seine Vorgeschichte erzählt habe. Der Zeuge sagt, dass er über die Geiselnahme eines Kollegen [U. nahm 1996 bei einem Tankstellenüberfall einen Polizisten als Geisel] erzählt habe, und dass er über 20 Jahre in Haft gewesen sei. Der SV fragt, ob Paul-Ludwig U. auch seine Unterbringung in einer Psychiatrie erwähnt habe. Der Zeuge erwidert: „Uns gegenüber nicht.“ Weiter beschreibt er U. als „mitteilsam“ und als „eher offensiven Menschen“.

RA Herzogenrath-Amelung möchte wissen, wie es dazu kam, dass U.s Handy ausgelesen wurde. Der Zeuge sagt aus, das habe das BKA oder das LKA erbeten. [Allerdings hatte U. zuvor Daten vom Gerät gelöscht.]

Wolfgang W.s RAin Rueber-Unkelbach fragt den Zeugen, ob er schon einmal jemanden gehabt habe, der so lange in Haft war und auf die Polizei zugekommen sei. Der Zeuge verneint. Weiter fragt die RAin den Zeugen, ob er die interne Diskussion über Zeugenschutz an Paul-Ludwig U. gespiegelt habe. Der Zeuge möchte das nicht ausschließen, es habe aber keine Vorschläge wie einen Vertrauensperson-Status gegeben. Auf die Zurückhaltung bezüglich des Zeugenschutzes habe Paul-Ludwig U. gesagt, er gehe trotzdem hin [vermutlich zu der 1.Mai-Feier].

Das LKA konnte U. weder wegschicken noch aufhalten

Wolfgang W.s RA Grassl fragt nach den Vorteilen für Paul-Ludwig U. durch einen Zeugenschutz. Der Zeuge erklärt, er sei dann nicht so schnell auffindbar. Er sei aber bei dem Thema nicht so informiert.

Michael B.s RA Mandic fragt, wie viele Kollegen in Heilbronn in den Fall involviert gewesen seien. Der Zeuge nennt nur sich selbst und seinen Kollegen T. Der RA fragt, ob der rechte Anschlag in Christchurch [15. März 2019] oder der Anschlag auf Sri Lanka [21. April 2019] Thema auf der Dienststelle gewesen seien. Der Zeuge erwidert: „Wüsste ich nicht.“ Weiter fragt der RA, ob über die Rezeption der beiden Anschläge in der rechten Szene geredet wurde. Der Zeuge antwortet, Lagebilder erstelle das BKA.

Michael B.s zweiter RA Berthold fragt, ob der Zeuge die Geschichte von Paul-Ludwig U. nur plausibel finde, weil er die entsprechenden Kontakte nachweisen konnte. Der Zeuge antwortet, dass zumindest die Personen, die Paul-Ludwig U. benannt habe, belegbar gewesen seien. Ob auch alles andere gestimmt habe, hätten sie zu dem Zeitpunkt noch nicht feststellen können. Er habe nicht gesagt, Paul-Ludwig U. sei glaubhaft gewesen. Man hätte ihn damals aber nicht einfach wegschicken können, auch wenn sie damals nicht mit einer Ermittlung gegen eine terroristische Vereinigung gerechnet hätten. Der RA fragt, warum man U. in die Gefahr habe rennen lassen. Der Zeuge stellt eine Gegenfrage: Welche Möglichkeiten hätte er gehabt, U. aufzuhalten?

RA Scholz fragt, ob sein Mandant Paul-Ludwig U. dem Zeugen einen E-Mail-Verkehr zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und ihm vorgelegt habe. Der Zeuge verneint. Anschließend entlässt ihn der VR und fragt nach Erklärungen.

Statements der Verteidigung

Frank H.s RA Herzogenrath-Amelung sagt, dass zentrale Begriffe, die zur Anklage geführt hätten – beispielsweise Anschläge auf Moscheen –  bereits in der geschilderten Vernehmung finden ließen.

RA Mandic bezeichnet die Vernehmung als unbefriedigend. Der Zeuge habe damals keine Behauptungen verifiziert. Offenbar reiche ein Anfangsverdacht aus; niemand habe Zweifel gehabt, weil es „gegen die Richtigen“ [Rechte] gegangen sei. Die zeitliche Reihenfolge sei wichtig. U. sei nach dem Anschlag in Sri Lanka in die Gruppe „Die Unbeugsamen“ eingeladen worden. Der RA möchte wissen, vom wem. Ansonsten habe U. kein Problem, Leute falsch zu beschuldigen.                                                                                                   

Als sonst niemand mehr etwas zum Zeugen zu sagen hat, zieht der VR eine kurze Bilanz vor dem 100. Prozesstag. Er mokiert sich über die Tricks im Zusammenhang mit dem „Gebührensprung“. [Das Honorar der RA*innen erhöht sich, wenn die Verhandlung länger als 14 bzw. 17 Uhr dauert. Offenbar spielt er auf Anträge oder Wortmeldungen an, die dazu dienen, den jeweiligen Prozesstag in die Länge zu ziehen, wenn er sonst kurz vor 14 oder 17 Uhr enden würde.]

Der VR fährt fort: Kernaufgabe des Senats sei das Aktenlesen. Anfangs habe die GBA dem Senat Sachakten von 100.000 Seiten vorgelegt. Inzwischen sei man bei 130.000 Seiten. „Wir fünf haben jede dieser Seiten mindestens einmal gelesen.“ Der Inhalt bestimme Sicht, Planung und Fragen. Der notwendige Umgang mit dem Prozessstoff sei „nicht unser Monopol“. „Auch andere Menschen stellen Fragen, an die wir nicht gedacht haben.“ Das dürfe man erwarten.

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