Am 90. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ am 15. September 2022 wurde per Video-Live-Schaltung und mit Unterstützung von zwei Dolmetscherinnen der in Italien ansässige Carmina Li. (47) befragt, der 2020 gemeinsam mit Werner S. in der JVA Augsburg auf einem Gang inhaftiert war. Li. gab an, dass sein ehemaliger Mithäftling Werner S. ihn in der JVA Augsburg gebeten habe, einen Auftragsmord an Paul-Ludwig U. zu arrangieren, da dieser die Gruppe an die Polizei verraten hätte. Am 20. oder 21. Oktober 2020 soll Werner S. seinem Mitgefangenen Carmina Li. ein Foto von Paul-Ludwig U. gezeigt und gefragt haben, ob dieser ihn ermorden lassen könnte. Laut Li. sagte Werner S., U. sollte vernichtet werden. Er müsse sterben, damit er nicht als Zeuge aussagen könne. Carmina Li. ging laut eigener Aussage zum Schein auf den Auftrag ein, informierte aber den Gefängnispsychologen.
Zwei Dolmetscherinnen sind anwesend, um vom Neapolitanischen ins Deutsche zu übersetzen. Die Videoschalte wird auf große Bildschirme im Gerichtssaal übertragen. Zu sehen ist Carmina Li. im Büro eines Ermittlungsrichters in Neapel. Der Richter ist ebenfalls anwesend. Eingangs erklärt der Vorsitzende Richter (VR), dass Li. nicht nach Stuttgart kommen wollte, sich aber per Video vernehmen lässt. Li. bestätigt das. Anschließend stellt er sich auf Bitte des VR kurz vor.
Er sei am 30. Juni 1975 in Portici geboren und dort aufgewachsen. Er habe 13 Jahre lang die Schule besucht. Anschließend habe er erst als Pizzabäcker und Kellner gearbeitet, sich dann zum KfZ-Mechaniker ausbilden lassen und sei aktuell wegen einer Krebserkrankung arbeitslos. Er habe zwei Operationen wegen gutartigen Gehirntumoren gehabt und befinde sich derzeit in Bestrahlung. Auf Nachfragen erzählt er von Krampfanfällen, auch im Gefängnis in Augsburg. Er habe ins Krankenhaus gemusst, habe sich aber gegen die OP gewehrt. Befragt zu möglichen Einschränkungen in der Wahrnehmung durch Tumore antwortet der Zeuge: „Absolut nicht“. Er lebe von seiner Ehefrau getrennt und habe einen Sohn und eine Tochter.
Im weiteren Verlauf wirkt der Zeuge mehrmals verwirrt darüber, dass der VR Fragen über den vermeintlichen Mordauftrag hinaus stellt, und fordert diesen auf, zum Punkt zu kommen. Der VR erwidert, der Senat entscheide selbst, welche Fragen man Li. stelle.
Gefragt nach seinen Vorstrafen zählt der Zeuge auf: Er habe in Italien eine Strafe von einem Jahr und vier Monaten verbüßt. Im April 2018 sei er in Italien wegen Raubes und schwerer räuberischer Erpressung festgenommen und im Februar 2019 nach Deutschland ausgeliefert worden. Am 30. April 2021 sei er entlassen worden und nach Italien zurückgekehrt, wo er seither auf freiem Fuß sei. Derzeit laufe ein Verfahren wegen Bedrohung gegen ihn.
Zeuge Li. und Werner S.: eine Annäherung unter Mithäftlingen
Der VR möchte wissen, wie Li. Werner S. in Augsburg kennengelernt habe. Li. erklärt, S. habe sich ihm im August 2020 in der JVA Augsburg-Gablingen als Matthias vorgestellt. Sie seien in Einzelzellen auf demselben Gang untergebracht gewesen. Er und S. hätten gemeinsam Tischtennis oder Schach gespielt oder zu Abend gegessen. Er habe für S. und sich gekocht. Li. erklärt, da er kein Deutsch spreche, darum habe er sich mit Matthias auf Englisch unterhalten. Matthias habe kein Italienisch gekonnt, aber begonnen, es zu lernen. Außerdem habe S. behauptet, er habe ein Haus im italienischen Savonna, wo ein Mädchen wohne, zu dem er Kontakt habe. Ansonsten habe S. nichts von Bezügen zu Italien erzählt. [Werner S. behauptete seinen Kameraden gegenüber, er stamme aus Italien, habe Kontakte zu vielen gewaltbereiten Nazis dort und habe früher einmal bei den Carabinieri gedient.]
Werner S. habe ihm, so der Zeuge, erzählt, dass ihm Terror vorgeworfen werde. Einer aus der Gruppe habe sie verraten. Sie seien nur gegen die Invasion des Landes gewesen. Er sei gegen die Politik von Merkel gewesen, alle reinzulassen. Seine Gruppe habe dagegen etwas tun wollen. Der Zeuge erinnert sich an rassistische Aussagen von Matthias. Er habe gesagt, er rechne mit 10 bis 15 Jahren Haft, aber er sei auch der Meinung gewesen, er sei zu Unrecht im Gefängnis. Li. merkt an, er habe Werner S. geraten, die Wahrheit zu sagen.
Der Zeuge hielt Werner S. Mordauftrag für ernstgemeint
Der VR fragt Li. ob er Werner S. eher dem Links- oder dem Rechtsterrorismus zugeordnet hätte. Der Zeuge meint, wenn Frauen und Kinder betroffen wären [bezüglich der Angst der Angeklagten, die Einwanderung sei eine Gefahr für deutsche Familien], dann sei das weder links noch rechts. Er habe Werner S. erzählt, dass er eher links stehe.
Der VR fragt, wie ernst Werner S. den Auftragsmord gemeint habe, ob S. das vielleicht nur einmal aus Ärger gesagt haben könnte. Der Zeuge sagt aus, dass Werner S. versucht habe, ihn zu überzeugen, „da gab es den absoluten Willen“.
Der VR möchte wissen, ob Werner S. ihm bei Formularen im Gefängnis geholfen habe. Werner S. schaltet sich von der Anklagebank ein und äußert: „Nein, hat er nicht.“ Der VR fragt nach einem angeblichen Streit zwischen Werner S. und Li. in Haft: Werner S. habe seinem Bruder, als er ihn in Haft besuchte, erzählt, dass Li. ihn am Hals und an der Nase verletzt habe. Der Zeuge streitet das ab und fügt an, er habe Werner S. auch niemals gezwungen, für ihn einzukaufen.
Gefragt nach seinem Eindruck von Werner S. erzählt der Zeuge, auf den ersten Blick habe S. wie ein „guter Mensch“ gewirkt, „intelligent“ und „ruhig“. Später habe er seine Meinung geändert. Als S. mit ihm über den Mordauftrag gesprochen habe, habe er ihn für verrückt gehalten.
So lief der Mordauftrag laut Zeuge Li. ab
Als sie einander besser kennengelernt hätten, habe Werner S. ihm ein Foto von einer Person [offenbar U.] gezeigt und gefragt, ob er ihn ermorden lassen könne. Die Person sei krank und gehe jeden Tag zur Behandlung. Er, so der Zeuge, habe gefragt: „Was sagst du da?“ und sich entschieden, dem Gefängnispsychologen Bescheid zu sagen. Der VR ergänzt, dieses Gespräch habe am 20. oder 21. Oktober 2020 stattgefunden. Der Zeuge fährt fort, Matthias habe über denjenigen, „den er vernichten wollte“, gesagt, er müsse sterben, damit er nicht als Zeuge aussagen könne. Er habe ihm das Bild gezeigt und Adressen genannt.
Dem Zeugen werden mehrere Schwarz-Weiß-Bilder gezeigt, darunter die Fotografie eines handgeschriebenen Zettels mit Adressen. Der VR fragt, wer das geschrieben habe. Der Zeuge benennt Werner S. Dieser habe u.a. „Best friend Karin T.“ [Nachname im Original ausgeschrieben] und „friend in Italy: Carlotta / Savona“ geschrieben. Der VR fragt, ob Werner S. etwas zu dieser Karin aus Deutschland erzählt habe. Der Zeuge gibt an, Karin habe S. regelmäßig besucht. Sie hätten mit kleinen Zetteln kommuniziert, die S. vorgeschrieben und an die Glas-Trennwand gehalten habe.
Der VR fragt nach, ob Mando Massimiliano B. bei dem Mordauftrag anwesend gewesen sei. [B. soll als Übersetzer dazugerufen worden sein.] Der Zeuge kann sich erst nicht erinnern. Daraufhin zitiert der VR aus einer früheren Aussage des Zeugen. Carmina Li. habe erst einige Zeit allein mit Werner S. auf Englisch gesprochen, dann habe er B. vom Gang hereingerufen, weil er sich nicht sicher gewesen sei, ob er die Worte richtig verstanden habe. B. habe dann übersetzt.
Zeuge Li. droht, seine Aussage abzubrechen, um einen damaligen Mithäftling zu schützen
Der Zeuge erklärt, dass er B. nicht in die Sache hineinziehen wolle. Es sei „gefährlich für die Person, die in Deutschland lebt“. Wenn der VR weiter nach B. frage, werde er „nichts mehr sagen“. Der VR versucht, ihn zu beruhigen: „Herr B. war bereits bei uns im Saal und hat Angaben gemacht.“ Als der VR weiter nach B. fragt, droht der Zeuge damit, das Gespräch abzubrechen.
Der VR zitiert aus einem Protokoll: Karin würde Carlotta das Geld überwiesen und dann wäre das Geld ausgehändigt worden an die Person, die er mit dem Auftragsmord beauftragt habe. Der Zeuge meint, wenn er das damals gesagt habe, stimme es so.
Weiter berichtet Li., er habe gegenüber Werner S. behauptet, dass Bild [von U.] an einen Verwandten weitergeleitet zu haben, aber tatsächlich habe er es der Polizei übergeben. Der VR fragt Li., warum Werner S. ausgerechnet ihn gefragt habe. Der Zeuge vermutet, S. habe ihn für einen „großartigen Kriminellen“ gehalten.
Der VR stellt seine letzte Frage: ob eine Beamtin Werner S. erzählt habe, er sei verlegt worden wegen Problemen mit Italienern. Daraufhin regt sich der Zeuge auf, die JVA habe große Fehler gemacht. Sie habe Werner S. gleich [nach dem Auftragsgespräch] verlegt und dann wieder in denselben Gang zurückverlegt.
Die Fragen der Verteidigung
Auch einige Verteidiger*innen haben Fragen an den Zeugen. Werner S.‘ RA Siebers möchte wissen, von wann bis wann er in Deutschland in Haft gesessen habe. Der Zeuge gibt den Zeitraum von 2019 bis zum 20. April 2020 an. Er sei zu einer Strafe von sechs Jahren verurteilt worden.
Paul-Ludwig U.s RA Scholz fragt nach den Namen und Adressen auf dem Zettel und welchen Hintergrund der Zettel habe. Der Zeuge erklärt, er oder die Person, die er mit dem Mord an U. beauftragen sollte, sollten mit den auf dem Zettel aufgelisteten Personen in Kontakt treten.
RA Herzogenrath-Amelung unterstellt Werner S. „Dampfplauderei“
Daraufhin wird der Zeuge entlassen. Einige RA*innen geben Statements zu seinen Aussagen ab. Frank H.s RA Herzogenrath-Amelung weist darauf hin, dass Werner S. kein Italienisch könne. Er sei ein „Dampfplauderer“ und ein guter Schauspieler, der immer die Rolle einnehme, die seinem Interesse diene.
RA Siebers weist darauf hin, dass der Zeuge von seinen sechs Jahren bisher nur zwei Jahre und zwei Monate abgesessen habe. [Vermutlich möchte der RA damit andeuten, der Zeuge könnte eine Art Deal mit den deutschen Behörden ausgehandelt und mit seinem Bericht über Werner S.‘ Mordauftrag seine Haftzeit verkürzt haben.] Der Angeklagte Frank H. stimmt dem RA zu: Die kurze Haftstrafe habe ein „böses Geschmäckle“.
Michael B.s RA Mandic nimmt Bezug auf Li.s Aussage, Werner S. habe eingeräumt, rassistisch zu sein und wegen der Gründung einer Terrorgruppe beschuldigt zu sein. Als Linker habe Li. ein Motiv, S. zu belasten.
Der Angeklagte Michael B. kritisiert, man habe aus Li.s Behauptungen nicht alles überprüft, beispielsweise dessen Englischkenntnisse.
Der VR befragt eine der beiden Dolmetscherinnen als Sachverständige zu Lis. Sprachkenntnissen. Sie gibt an, dass sich Li. gut auf Italienisch ausdrücken könne. Er spreche Hoch-Italienisch mit neapolitanischer Einfärbung und habe einen einfachen Wortschatz. Anschließend wird auch die Dolmetscherin entlassen.
Fortsetzung: Der Streit zwischen RA Mandic und dem VR
Der VR erklärt das Ende eines Selbstleseverfahrens vom 2. August 2022. [In Selbstleseverfahren lesen die Verfahrensbeteiligten Akten, damit beispielsweise die Tausenden Seiten Chatprotokolle nicht einzeln im Gerichtssaal besprochen werden müssen. Die Inhalte der Akten gelten dann als bekannt und in die Beweisaufnahme eingeflossen.] RA Hofstätter verliest zu den 125 Schriftstücken, die das Verfahren diesmal beinhaltete, eine Stellungnahme. Sein Fazit: Diese Schriftstücke würden seinen Mandanten Tony E. nicht belasten.
RA Miksch hat bezüglich seines Mandanten Marcel W. einige Stellen aus den gelesenen Stücken herausgesucht: Sie würden belegen, dass W. bei der Durchsuchung kooperativ gewesen sei. Sein erster Kontakt zu Werner S. datiere auf den 23. Juli 2019. Eines der Schriftstücke sei ein Brief von W. an seine Ehefrau vom 16. April 2020, in dem er schreibe, er sei da in etwas hineingeraten, in das er nicht hineingeraten wollte. In einem weiteren Brief schreibe W., er habe zweimal abgestritten, was ihm vorgeworfen werde. In einem Brief von W. an eine Marion W. [vermutlich seine Mutter] vom 8. April 2020 betone W., Terror sei eine Gefahr für Familienangehörige.
Markus K.s RAin Schwaben sind zwei Anmerkungen zu ihrem Mandanten Markus K. wichtig. In einer Patientenverfügung berufe er sich auf geltende Gesetze und in einer Willenserklärung betone er, er sei kein Reichsbürger.
Zum Abschluss des Prozesstages geht der VR auf einen Vorfall der vergangenen Woche ein: RA Mandic hatte dem VR vorgeworfen, er habe ihn bei der Zeugenbefragung mehrfach unterbrochen und dadurch die Rechte seines Mandanten Michael B. beschnitten. Der Senat hatte den ersten Antrag des RA dazu abgelehnt, der RA hatte seinen Vorwurf aber am vergangenen Verhandlungstag wiederholt. Nun weist der VR die Gegendarstellung des RA erneut zurück.