Am 86. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ in Stuttgart-Stammheim am 5. September 2022 wurde Oberkommissar Nikolai B. (46) aus Augsburg vernommen. Thema war ein mutmaßlicher Auftragsmord von Werner S. gegen seinen Mitangeklagten Paul-Ludwig U., der die „Gruppe S“ an die Polizei verraten hatte. Angeblich wollte Werner S. deswegen U. ermorden lassen und sprach deswegen Carmina Li., einen italienischen Mithäftling in der JVA Augsburg, an. Bei diesem vermutete S. offenbar Mafia-Verbindungen und könnte gehofft haben, dass L. mit deren Hilfe einen solchen Auftrag durchführen würde. Der Mithäftling L. ging offenbar zum Schein auf die Wünsche von Werner S. ein, meldete den Vorfall aber dem Anstaltspsychologen. Der Psychologe hatte bereits am 82. Prozesstag als Zeuge zu diesem Komplex ausgesagt. Nun wird gegen Werner S. wegen des Verdachts der versuchten Anstiftung zur Tötung ermittelt.
Der Vorsitzende Richter (VR) verkündet, dass mit Wirkung vom 14. August 2022 die Haftbefehle gegen die Angeklagten Stefan K. und Markus K. aufgehoben wurden. Dann bittet er den Zeugen Nikolai B. herein. Der Oberkommissar stellt sich kurz vor: Er arbeite seit 2017 bei der Kriminalinspektion Z Schwaben Nord mit Sitz in Augsburg. Davor sei er dreieinhalb Jahre beim Staatsschutz gewesen. Im Ermittlungsverfahren gegen Werner S. wegen des mutmaßlichen Mordauftrags habe er seinem Kollegen L. zugearbeitet, er habe Briefe ausgewertet und sei bei Vernehmungen anwesend gewesen.
Der VR ergänzt, Nikolai B. habe auch die Vernehmung von Herrn Li. durchgeführt. Er sei auch bei der Hausdurchsuchung, der Vernehmung von Werner S. und bei dessen Zellendurchsuchung dabei gewesen. Heute gehe es um die Vernehmung von Li. vom 5. November 2020. Der Zeuge erklärt, er habe diese Vernehmung allein mit einer Dolmetscherin namens T. durchgeführt, da sein Kollege L. frei gehabt habe. Die Deutsch-Italienerin T. habe auf Basis eines Diktats auch das Protokoll der Vernehmung angefertigt.
Der VR fragt, mit welcher Erwartungshaltung er sich in die Ermittlung begeben habe. Der Zeuge antwortet, die Anstaltsleitung habe sie vom versuchten Mordauftrag informiert. Werner S. habe er bei der Hausdurchsuchung schon kennengelernt. Er habe sich überlegt, ob er ihm einen solchen Mordauftrag zutraue, und habe alles für möglich gehalten.
Zeuge hält Hinweisgeber Li. für glaubwürdig
Der VR fragt nach seinem Eindruck von Li. Der Zeuge sagt, es sei wichtig gewesen, zu prüfen, ob sich bei ihm ein „Belastungseifer“ zeige. Das sei nicht der Fall gewesen. Li. habe in der Vernehmung konsistent erzählt, dass Werner S. ihn für einen Mord angefragt habe und er deswegen zum Anstaltspsychologen gegangen sei. Zur Beziehung zu Werner S. habe Li. gesagt, dass die beiden auf gleichen Niveau Schach gespielt hätten. Werner S. habe in ihm wohl einen „wilden Hund“ erkannt, als er Li.s Akte auf Deutsch zu lesen bekommen habe. Das sei vermutlich wichtig für den Auftrag gewesen, ebenso wie die Verurteilung zu viereinhalb Jahren Haft.
Der VR fragt, ob das nicht etwas Archetypisches habe: Der Italiener, der Mafiosi sei. Der Zeuge erwidert, Li. habe sich so in Haft dargestellt. Auf direkte Nachfrage habe er aber behauptet, er sei kein Mafiosi.
RA Werner Siebers: Auf Werner S.‘ Kontakt-Zettel für Li.s Beauftragung
Werner S. habe sich auf Englisch mit Li. unterhalten und gefragt, ob er das [den Auftragsmord] machen könne. Der VR zitiert: „Es wurde peu à peu darauf hingearbeitet.“ Über das mutmaßlich anvisierte Mordopfer habe Werner S. laut Li. gesagt, die Person sei ein Verräter und der Hauptbelastungszeuge. Ohne diese Person würde das Verfahren wohl scheitern. Der VR sieht hier einen Widerspruch in S.‘ Verhalten: Einerseits habe S. sich dieser u.a. Li. gegenüber als unschuldig bezeichnet, andererseits habe er U. als Verräter bezeichnet und mutmaßlich beabsichtigt, das Verfahren scheitern zu lassen. Laut VR habe Li. im Polizeiverhör ausgesagt, er habe S. empfohlen, den Mordplan bleiben zu lassen und stattdessen mit seinem Anwalt zu sprechen. Laut Li. habe S. ihm ein Bild von U. samt dessen Adresse sowie einen Zettel mit Kontaktdaten in Italien gegeben. Der Zeuge ergänzt, dass Schriftvergleiche ergeben hätten, dass tatsächlich Werner S. diesen Zettel geschrieben habe. Das Bild wird an die Wand des Gerichtssaals projiziert, ebenso ein Zettel mit den Kontaktdaten von Karin T., versehen mit den Worten „best friend“, sowie von Rechtsanwalt (RA) Siebers und einer Carlotta, neben deren Namen „Friend in Italy“ vermerkt ist. Der Zeuge gibt an, dass Werner S. laut Li. gesagt habe, diese „Friend in Italy“ werde das Geld nach Tatausführung aushändigen. Über die genaue Summe sei noch nicht gesprochen worden. Aus anderer Gefängnis-Quelle habe er erfahren, dass Li. behauptet habe, er könnte einen Auftragsmord für einen unteren vierstelligen Betrag organisieren. [Laut Zeugenaussage von Li. am 82. Prozesstag stand eine grob geschätzte Summe von 40.000 bis 50.000 Euro im Raum.] Außerdem habe S. laut Li. gesagt, dass in seiner Gruppe Polizisten und Politiker seien [im Saal lacht Werner S. an dieser Stelle auf] und dass Paul-Ludwig U. im Krankenhaus behandelt werde und man ihn dort leicht abpassen könnte. Li. habe im Verhör behauptet, er habe gar nicht die Möglichkeit, einen Auftragsmord zu arrangieren. Außerdem sei Li. von der Ernsthaftigkeit der Sache nicht gänzlich überzeugt gewesen. Der VR zitiert hierzu einen Auszug aus der Vernehmung: „Ich möchte nicht Schuld sein, wenn S. einen anderen beauftragt. […] Ich kann aber auch nicht sagen, ob S. das alles möchte.“
Mordauftrag lost in Translation
Der VR fragt den Zeugen zu dem dritten Mann. Li. wollte, so der Zeuge, den Auftrag verifiziert haben und habe Massimiliano B. als Übersetzer dazu gerufen. Er habe aber betont, dass B. nichts mit der Sache zu tun gehabt habe. Erst auf Drängen habe er B.s Namen auf einen Zettel geschrieben. Dass er ihn nicht ausgesprochen habe, habe wohl psychologische Gründe.
Der VR fragt den Zeugen nach der Motivation von Li. Darüber, so der Zeuge, habe er mit seinen Kollegen auch gesprochen. Er wiederholt die Vermutung, die auch schon der Anstaltspsychologe in seiner Zeugenaussage nannte: der Gegensatz zwischen dem politisch rechten Werner S. und dem eher linken Li. – wobei der Polizeizeuge anmerkt, dass Li. kein Linker im klassischen Sinne sei. Als weiteren möglichen Grund habe er sich vorstellen können, dass Li. sich von der Information, die er an die JVA weitergab, einen Vorteil erhofft haben könnte: Die Klassiker wären Haftverkürzung oder eine Abschiebung ins Heimatland. Letzteres habe Li. aber nicht gewollt.
Bezüglich Karin T., die Werner S. auf seinem Kontaktzettel nannte, sagt der Zeuge, dass er ihr die Beteiligung an einem Auftragsmord nicht zuzutrauen würde. Er erwähnt in dieser Sache auch ein Verfahren gegen Karin T., das aber eingestellt worden sei.
RA Herzogenrath-Amelung will wissen, ob Li. etwas über die Italienisch-Kenntnisse von Werner S. gesagt habe. [Vermutlich zielt der RA damit auf den erlogenen Lebenslauf von Werner S. ab, der sich u.a. mit einer angeblichen Vergangenheit bei den Carabinieri schmückte.] Der Zeuge erwidert, dass Werner S. mit Li. versucht haben soll, Italienisch zu lernen. Weiter fragt der RA, warum der Zeuge mit Bezug auf Paul-Ludwig U. den Begriff „V-Mann“ verwendet habe. Der sei, so der Zeuge, von Li. oder Werner S. so verwendet worden. Möglicherweise sei Paul-Ludwig U. auch in der Presse als „V-Mann“ bezeichnet worden.
RA Siebers bittet um 30 Minuten, um sich mit seinem Mandanten Werner S. abzusprechen. Der VR gewährt ihm diese Bitte und beschließt eine Pause. Anschließend fragt RA Siebers nach der Kommunikation im Verhör via Dolmetscherin und erhält vom Zeugen die Antwort, dass die Dolmetscherin mit Li. auf hochitalienisch gesprochen habe, obwohl Li. ansonsten neapolitanisch spreche. Er selbst habe beim Zeugen auf Englisch nachgefragt, ob die Übersetzung funktioniere.
Angeklagter Michael B. und seine RA Mandic schwänzen
Weiter erkundigt sich der RA beim Zeugen, ob er nachgefragt habe, warum seine Kontaktdaten [die von RA Siebers] auch auf dem Zettel standen. Nikolai B. verneint. Außerdem möchte der RA wissen, mit wem Li. über den Mordauftrag gesprochen habe. Der Zeuge gibt an, Li. habe das dem Anstaltspsychologen und seiner RAin mitgeteilt.
RA Mandic fragt, ob die gegensätzlichen politischen Einstellungen von Li. und Werner S. zu einer Falschaussage geführt haben könnten. Der Zeuge sagt, das wisse er nicht, aber er habe nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, dass Li. aus politischen Gründen einen Mordauftrag erfinden könnte. Der RA entgegnet, es sei „verwunderlich, dass ein Gewaltverbrecher [Li.] so altruistisch agiert“.
Der VR entlässt den Zeugen und unterbricht die Verhandlung für eine Mittagspause. Doch nach der Pause fehlen der Angeklagte Michael B. und sein RA Mandic. Offenbar hatten sie ausrichten lassen, dass es länger dauern könnte. Daraufhin bricht der VR den Verhandlungstag ab.