Prozesstag 85: Ein kurzer, aber interessanter letzter Termin vor der Sommerpause

Der letzte Prozesstag vor der Sommerpause am 5. August 2022 war kurz, lieferte aber einige interessante Hinweise. Es wurde ein abgehörtes Telefonat zwischen Tony E. und Thomas N. abgespielt, die kurz nach dem Treffen in Minden den Verdacht hatten, Paul-Ludwig U. könnte sie an die Behörden verraten haben. Sie verabredeten, U. aus der Gruppe zu werfen. In einem Telefonat zwischen U. und dem Staatsschutz Gießen vom September 2019 kommt zur Sprache, was im Prozess seit langem diskutiert wird: Dass U. die anderen Angeklagten im Glauben verraten haben könnte, er werde im Gegenzug für seine Straftaten in der „Gruppe S“ und mit einer CO2-Waffe, die bei ihm beschlagnahmt wurde, nicht bestraft. Zum Ende des Prozesstags zog der VR eine positive Zwischenbilanz: U. werde weniger attackiert, und auch das Verhältnis zwischen Senat und den übrigen Angeklagten habe sich verbessert.

Eingangs verkündet der Vorsitzende Richter (VR) seinen Plan für den Tag: Man werde nun ein Telefonat aus der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) hören, das man bereits an einem früheren Prozesstag in Augenschein genommen habe, das damals allerdings wegen technischer Probleme vorzeitig abgebrochen werden musste.

TKÜ vom 10. Februar 2020: Telefonat zwischen Tony E. und Thomas N.

Das Gespräch zwischen Tony E. und Thomas N. vom 10. Februar 2020 dauert 13 Minuten und ist akustisch so schwer zu verstehen, dass in diesem Bericht nur Bruchstücke wiedergegeben werden können. Die beiden unterhalten sich besorgt über einige Auffälligkeiten beim zentralen Treffen der „Gruppe S“ in Minden vom 8. Februar 2020. Der Verdacht der Überwachung kommt auf: Sie sprechen über ein Auto, das am Freitag [7. Februar] „stationiert“ worden und „spät in der Nacht von Samstag“ abgeholt worden sei. „Das ist kein Zufall“, betont Tony E.

Auch ein zweiter Punkt alarmiert sie: der Verdacht, Paul-Ludwig U. könnte sie an die Polizei verraten haben. Sie sprechen über die vermeintliche Verfolgung von U. und Wolfgang W. auf dem Rückweg von Minden nach Koblenz. In Tony E.s Augen spricht eine weitere Tatsache gegen U.: Er habe zu Beginn des Treffens draußen am Eingang gewartet und alle Ankommenden begrüßt. Es kommt E. seltsam vor, dass U. dort über eine Stunde in der Kälte stand, so als ob er alle habe abfangen wollen.

Thomas N. geht offenbar davon aus, dass das Treffen abgehört wurde. „Man kann also davon ausgehen, dass sehr wahrscheinlich alles, was gesprochen wurde, aufgezeichnet ist. Ach du scheiße.“ Tony E. bestätigt: „Bingo.“ Er habe bei sich alles durchsucht [vermutlich, um Überwachungstechnik zu finden], habe drei Kameras bestellt und sein WLan abgeschaltet. Man müsse jetzt vorsichtig sein und U. rauswerfen, aber ruhig bleiben. Niemand solle die Gruppe verlassen. Er habe bereits seinen Anwalt eingeschaltet.

Thomas N. erklärt, U. sei ihm nicht unsympathisch, aber er habe ein schlechtes Bauchgefühl. Man müsse „in höchstem Maße Vorsicht in Bezug auf die Person P. U. walten lassen“. Zum Ende des Telefonats verabreden sich die beiden für den kommenden Freitag.

TKÜ vom 18. September 2019: Gespräch zwischen Paul-Ludwig U. und dem Beamten W. vom Staatsschutz Gießen

Zu hören ist bei diesem sehr kurzen Gespräch nur ein Teilnehmer. Eine männliche Stimme diktiert die Mailadresse des ZK10 in Hessen, der Abteilung für Staatsschutz der Kripo in Gießen. Das Gespräch endet mit der Ankündigung: „Wir hören uns nächste Woche. Alles Gute, ciao!“

RA Berthold kritisiert, dass in der Verschriftlichung der Akte auch stehe, was U. gesagt habe, aber im Audio nichts davon zu hören ist.

TKÜ vom 30. September 2019: Gespräch zwischen Paul-Ludwig U. und dem Beamten B. vom Staatsschutz Gießen

B. erklärt eingangs, er rufe U. wegen technischer Probleme erst jetzt zurück. U. sagt, er habe mehrmals angerufen wegen des anstehenden Treffens am Mittwoch. B. unterbricht ihn: „Wir konnten ein Ermittlungsverfahren einleiten bei der Staatsanwaltschaft Pankow. Aufgrund Ihrer Äußerungen in der Vernehmung gehen wir davon aus, dass Sie sich ggf. strafbar gemacht haben könnten. Daher sind Sie bei uns Beschuldigter in einem Strafverfahren.“ Er klärt ihn kurz über seine Rechte auf: dass er keine Angaben machen müsse und sich einen Rechtsanwalt suchen dürfe. Er warnt U. auch, dass das Ermittlungsverfahren gegen die Gruppe vielleicht keinen Erfolg haben könnte: Aktuell habe man nur U.s Aussagen, aber selbst keinen Einblick in die Telegram-Chats. U. betont: Ein Oberstaatsanwalt aus Stuttgart habe gesagt: „Diese Akte ist geschlossen, aufgrund Ihrer Mitarbeit. Da machen Sie sich überhaupt keinen Kopf. Das wird jetzt hier nur pro forma gemacht.“ [Vermutlich geht es hier um die von U. häufig wiederholte Erzählung, die Behörden hätten ihm für seine Aussagen über die „Gruppe S“ versprochen, nicht für Straftaten hier oder bezüglich der bei ihm gefundenen CO2-Waffe zur Rechenschaft gezogen zu werden.] Der Beamte B. widerspricht: „Jaja, ich weiß. Das haben Sie ja hier auch schon so gesagt. Aber Sie müssen wissen, dass Sie hier als Beschuldigter geführt werden. Das ist eine Grundvoraussetzung, dass wir hier mit offenen Karten spielen. Sie sind ja mit Ihrer Rolle so ein bisschen im leeren Raum gewesen.“ U. hält dagegen: Selbst wenn man ihn jetzt als Beschuldigter führe, stehe das Gerichtsurteil ja noch nicht fest. B. antwortet mit „Ja“. U. wendet sich dem eigentlichen Thema des Telefonats zu: „Die ganzen Gruppen, ‚Wodans Erben‘, ‚Freikorps Bayern‘ und so weiter. Es kann sein, dass dann der Verfassungsschutz übernimmt.“ B. bezieht sich auf etwas, das U. ihm bereits gesagt habe: Dass er wegen seiner Vita so schnell das Vertrauen der Gruppe erlangt habe und sie nun in ihrem Aktionismus nicht ausbremsen könne, da er sonst auffalle. U. kündigt an, er werde mit sieben Mann zur Demonstration [am Tag der Deutschen Einheit] in Berlin fahren. Die Gruppen seien „alle miteinander befreundet“. Der Beamte möchte wissen, ob auch der Kreis um Johnny L. in Gießen [mit dem U. nach Berlin fuhr und bei dem er auf dem Weg dorthin übernachtete] auch bei dem Treffen gewesen seien. „Nein“, antwortet U.: „Aber es ist nicht auszuschließen, dass sie noch dazustoßen.“ Es seien „konkrete, wirklich konkrete Aktionen“ geplant.

B. kommt darauf zurück, dass U. am Mittwoch nach Gießen kommen soll. „Das wäre mir ganz lieb. Ich habe Ihnen jetzt am Telefon gesagt, dass Sie Beschuldigter sind, aber wir haben ja jetzt nichts Schriftliches. Mir wäre das ganz lieb, wenn wir das mal schwarz auf weiß hätten, dass ich Sie hier über Ihre Rolle aufgeklärt habe.“ U. willigt ein. B. fährt fort: „Es ist nicht so, dass wir Sie da hinschicken. Sie machen das aus freien Stücken. Nicht, dass Sie denken, Sie hätten einen Auftrag der Polizei und würden da im Namen der Polizei handeln. Dem ist nicht so. Sie können sich da strafbar machen. Das müssen Sie immer im Hinterkopf behalten.“ U. widerspricht: „Das ist schon wieder so eine Sache. Das sieht das LKA [Baden-Württemberg] ganz anders. Die haben gesagt, nehmen Sie die scharfe Waffe mit, legen Sie die ins Auto.“ [Hier geht es vermutlich um eine hypothetische Situation, die U. im Voraus absprach: Was er tun sollte, falls jemand aus der Gruppe ihm eine scharfe Waffe aushändigt.] B. sagt: „Ich kann Ihnen jetzt hier nichts dazu sagen, was das LKA da jetzt mit Ihnen bespricht. […] Dann müsste man ggf. den Staatsanwalt dazu holen. […] Jetzt gerade muss man sagen: Es gibt keinen Auftrag. Das ist alles Ihre Suppe.“

RA Becker: Telefonat belegt, dass U. ein Schutz vor Strafe versprochen worden sei

Nach diesem Telefonat fragt der VR nach Erklärungen. RA Becker sagt, er sei „sehr froh, dass wir dieses Telefonat gehört haben“. Es belege, dass U. versprochen worden sei, er werde nicht wirklich als Beschuldigter behandelt.

RAin Schwaben fordert dazu auf, sich in U.s Situation beim Telefonat hineinzuversetzen: Er habe „zwei neue Ermittlungsverfahren an der Backe“ und sei auf die Möglichkeit einer Strafminderung hingewiesen worden, „wenn man die Verhinderung dieser terroristischen Vereinigung bewerkstelligt“. Zwar habe U. hier nichts verhindert [die Gruppe wurde schließlich verhaftet, bevor sie ihre Pläne in die Tat umsetzen konnte], aber in diesem Telefonat vom 30. September sei erheblicher Druck auf U. ausgeübt worden, dass er Ergebnisse liefern müsse, weil er sonst erheblichen Ärger bekommen würde.

Auch der Angeklagte Frank H. erhebt das Wort: U. sei zu keiner Zeit in irgendeiner Gruppe der „Wodans Erben Germanien“ gewesen, obwohl er immer wieder behaupte, er kenne die Pläne und Ziele der WEG.

VR zieht Zwischenbilanz: Positiveres Verhältnis der Prozessbeteiligten zu U. und zum VR selbst

Als niemand mehr etwas zu den gehörten Telefonaten sagen möchte, beendet der VR diesen kurzen letzten Prozesstag vor der Sommerpause mit einem Rückblick auf die vergangenen sieben Monate: Für den Senat habe das Verfahren einen interessanten Verlauf genommen, auch wegen des „Paradigmenwechsels beim einen oder anderen in diesem Saal“. [Vermutlich spielt er darauf an, dass Paul-Ludwig U. von der Verteidigung der anderen Angeklagten zu Beginn des Prozesses als der große Manipulator attackiert wurde und nun zunehmend als derjenige gesehen wird, der seinerseits von den Behörden manipuliert und so in seine Rolle gedrängt worden sein könnte. Damit einher geht eine abnehmende Feindschaft und Hetze der Verteidigung und der anderen Angeklagten gegen U., der sich in den Prozesspausen nun teils freundschaftlich mit Mitangeklagten unterhält.]

Abschließend bedankt sich der VR für „die Professionalität im Umgang miteinander“. Mit Blick Richtung Anklagebank benennt er eine „gegenseitige Achtung und Respekt füreinander“, auch morgens vor Prozessbeginn im Untergeschoss, wo er sich offenbar hin und wieder mit einzelnen Angeklagten unterhält.

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