Prozesstag 83: Thorsten W.s Versuch, sich rauszureden

Am 83. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ am 2. August 2022 war der Dortmunder Staatsschutzbeamte Uwe H. als Zeuge geladen. Er berichtete über die Hausdurchsuchung und anschließende Vernehmung des beschuldigten Polizeibeamten Thorsten W. aus Hamm. Er berichtete zum Großteil über Fakten, die bereits aus W.s eigener Aussage vor Gericht an Prozesstag 3 und 4 bekannt waren. Erneut wurde darauf eingegangen, welche rechten Fan-Artikel bei W. gefunden wurden – darunter Hitlers „Mein Kampf“ und ein Hakenkreuz aus Bügelperlen –, auf eine Schusswaffe und mehrere Stichwaffen sowie Cannabis. Bei der Durchsuchung äußerte Thorsten W., er verstehe nicht, warum er beschuldigt werde. Er war kooperativ und machte im Anschluss auf der Wache Aussagen, die die Gruppe und das zentrale Treffen in Minden als recht harmlos und ihn selbst als ahnungslos darstellen. So behauptete er, nach Minden gefahren zu sein im Glauben, es würde dort ums Mittelalter gehen. Vor Ort sei ihm dann alles zu heikel gewesen und er habe aussteigen wollen, das dann aber doch nicht getan. Der Zeuge hielt W. insgesamt für „nicht ganz glaubwürdig“, er habe sich gewunden und herumgedruckst. Rechtsanwalt (RA) Herzogenrath-Amelung hielt dagegen: Dass W. überhaupt Aussagen machte, zeige, dass er sich nicht wie ein Verbrecher gefühlt habe.

Der für diesen Verhandlungstag geladene Zeuge betritt den Raum. Uwe H. (55) ist Kriminalhauptkommissar beim Staatsschutz des Polizeipräsidiums Dortmund und dort Sachbearbeiter zu politisch rechten Fällen. Seit 1998 arbeitet er für die Polizei. Am Vortag der Durchsuchungen, dem 13. Februar 2020, habe er erfahren, dass er den Einsatz unterstützen solle, so der Zeuge. Erst am Tag der Maßnahme habe man ihn etwas genauer eingewiesen. Daran könne er sich aber nicht mehr genauer erinnern.

Neben ihm seien aus seiner Dienststelle drei weitere Kollegen mitgekommen, zusätzlich zwei Kriminalkommissare vom KK 25 sowie ein Diensthundeführer – weil man gewusst habe, dass Thorsten W. einen Hund besitzen würde, erklärt der Zeuge. Er selbst sei der Dortmunder Ansprechpartner der einsatzleitenden Kollegin S. gewesen, vor Ort aber ein normaler durchsuchender Polizist. Die Aufgabe sei gewesen, Beweismittel zu suchen, „die in die rechte Richtung gehen, zur Unterstützung dieser Terrororganisation“.

Ein Hakenkreuz aus Bügelperlen

„Spielte das Thema Waffen eine Rolle“, fragt der Vorsitzende Richter (VR). „Im Beschluss nicht, aber in der Vernehmung, soweit ich mich erinnere. Wir haben Waffen aufgefunden, wenn auch keine scharfen.“

Der VR möchte wissen, ob dem Zeugen etwas Besonderes von der Durchsuchung im Gedächtnis geblieben sei. Dieser erinnert sich an ein Objekt aus der Küche: „Da stand ein kleines, aus Bügelperlen gemachtes Hakenkreuz. Das fand ich skurril.“ Ansonsten sei es „eine normale Durchsuchung“ gewesen.

Eine Pistole mit Holster und Magazin, Hitlers „Mein Kampf“ und jede Menge Gras

Der VR lässt die Asservatenliste an die Wand des Gerichtssaals projizieren. Dort sind unter anderem aufgelistet:

  • Mehrere Bargeldfunde, insgesamt einige Hundert Euro
  • Ein Dienstausweis nebst dienstlichem Schlüssel
  • Eine Pistole Walther mit Holster und Magazin (entladen)
  • Ein Magazin
  • Ein „schusswaffenähnlicher Gegenstand“
  • Mehrere Datenträger, darunter eine SD-Karte und eine Festplatte
  • Vier Dolche mit Schutzhülle in verschiedenen Größen
  • Ein Antrag zum Führen von Hieb- und Stichwaffen
  • Eine zweistellige Anzahl an Tütchen mit Cannabis, außerdem eine ebenfalls zweistellige Anzahl gedrehter Joints
  • Eine Videokassette mit dem Titel „Hitler – eine Karriere“
  • Eine Schachtel mit 25 Platzpatronen 8mm
  • Ein rotes Springmesser
  • Ein Klapphandy
  • Aufkleber und Buttons der „Identitären Bewegung“ sowie Flyer und Aufnäher
  • Ein Waffenschein
  • Drei selbstgemalte Plakate mit SS-Bezug
  • Zwei Ausgaben von Hitlers Buch „Mein Kampf“

Die meisten der rechten Devotionalien habe man im Büro in einem kleinen Schränkchen sowie im Bücherregal im Wohnzimmer gefunden, erinnert sich der Zeuge.

Kein Schuldbewusstsein

An Kontakt zu Thorsten W. während der Durchsuchung kann sich der Zeuge nicht erinnern, auch nicht daran, ob er etwas sagte. „Ich hatte mit ihm nichts zu tun, weil ich im Schlafzimmer und im Büro war, und er im Wohnzimmer.“

Der VR hält aus dem Protokoll der Maßnahme vor, dass Thorsten W. gesagt habe, er habe rechtlich verstanden, was ihm vorgeworfen wird, und dass er kooperieren wolle, aber nicht verstehe, warum er beschuldigt werde. Der VR fasst zusammen, was W. laut Protokoll während der Durchsuchung sagte: Er sei zu dem Treffen am 8. Februar 2020 gefahren in der Annahme, es werde dort um das Mittelalter gehen. Bis auf Thomas N. habe er keinen der anderen Teilnehmer gekannt. Das gefundene Cannabis habe Thorsten W. als „altes Rauchkraut“ bezeichnet.

Eine Vernehmung unter Zeitdruck

Der Zeuge schildert den weiteren Verlauf des Einsatzes: Nach der Durchsuchung habe man W. zur Dienststelle gefahren. Einsatzleiterin S. habe dort die Vernehmung geführt und ihn dazu gebeten. Außerdem habe man „eine Schreibkraft von einem externen Büro“ für das Protokoll dazu geholt. „Ich gehe davon aus, dass sie wörtlich mitgeschrieben hat. Aber ich stand nicht hinter ihr, das kann ich also nicht ganz genau sagen“, merkt der Zeuge an.

Insgesamt habe man sich bei der Vernehmung beeilen müssen: „Wir hatten relativ wenig Zeit, weil W. bald weggebracht werden sollte. Eigentlich war auch eine erkennungsdienstliche Behandlung geplant, die haben wir auch nicht mehr geschafft.“ Ob es einen Fragenkatalog [vorgefertigt von der Bundesanwaltschaft] gab, weiß der Zeuge nicht mehr.

Thorsten W.: Der arglose Mittelalterfan?

„Haben Sie eine Erinnerung daran, was Herr W. konkret zum 8. Februar 2020 gesagt hat“, fragt der VR. „Dass er von Thomas N. eingeladen wurde“, berichtet der Zeuge. „Er ist am 8. Februar gegen 11.30 Uhr dagewesen.“ Bis 13 Uhr habe man sich unterhalten. Dann seien die zwölf Teilnehmer alle anwesend gewesen. Sie hätten gemeinsam gegessen, und jeder habe sich vorgestellt, mit Namen und Beruf. „Da war erst mal Thema, dass Herr W. im öffentlichen Dienst arbeitet“, erinnert sich der Zeuge. Er berichtet, die Teilnehmer hätten laut W. schließlich über dessen Verbleib abgestimmt. „Da wäre man sich aber wohl mehr oder weniger einig gewesen, dass er dabeibleiben sollte.“ Das Thema sei schließlich im Sande verlaufen.

Laut W. habe man sich anschließend darüber unterhalten, „dass man irgendwas machen will, dass man bisschen konkreter werden will, dass man sich Waffen beschaffen will“, fasst der Zeuge zusammen. „Als er gefragt hat, was das mit den Waffen soll, hat man von Christchurch gesprochen. [Als Thorsten W. vor Gericht aussagte, schrieb er sich selbst zu, Christchurch im Zusammenhang mit den Plänen der Gruppe zum Thema gemacht zu haben. Siehe Bericht zum 3. Prozesstag.] Auf das Thema sei man aber nicht näher eingegangen. Thorsten W. habe dann laut eigener Aussage eine Zigarettenpause gegen 15.30 oder 16 Uhr genutzt, um sich zu verabschieden, „weil ihm das alles zu heikel geworden“ sei.

W. war das Treffen zu heikel – doch nicht heikel genug für einen Ausstieg

W. habe erwiesenermaßen im Anschluss an das Treffen Thomas N. eine Telegram-Nachricht geschickt, dass er die Gruppe verlassen wolle. „Das hat er aber nicht getan, weil er erstmal abwarten wollte, bis ein bisschen Gras über die Sache gewachsen ist, um sich dann zu verabschieden“, erklärt der Zeuge.

Der VR fragt, was Thorsten W. nach seiner Festnahme über eine finanzielle Beteiligung an den in Minden besprochenen Aktionen gesagt habe. „Alle anderen sollen gesagt haben, dass sie kein Geld hätten. Herr W. hat gesagt, dass er mit 1.000 bis 2.000 Euro aushelfen sollte.“ „Soll oder will“, hakt der VR nach. „Soll“, antwortet der Zeuge. „Hat er gesagt, diese Summe hätte er, oder dass er sie auch beisteuern würde?“ „Nur, dass er das Geld hatte“, sagt der Zeuge, betont aber, dass das nur eine Vermutung sei, weil W. das nicht so klar ausformuliert habe.

Der unprotokollierte Teil der Vernehmung

Das Protokoll der Vernehmung weist eine Lücke auf, die der VR nun genauer erörtern möchte. Laut Protokoll habe man den letzten Teil von W.s Aussagen wegen eines Computerfehlers nicht abspeichern können und die gestellten Fragen und Antworten daher nachholen müssen. Eine ganze Seite sei verloren gegangen. Der Zeuge erinnert sich an die Situation und bemängelt, dass Thorsten W. bei dieser zweiten Gelegenheit, auszusagen, einige seiner vorherigen Aussagen zurückgenommen oder ihnen widersprochen habe. Beispielsweise über seine finanzielle Beteiligung habe W. beim zweiten Anlauf nur noch nebulös gesprochen.

Der VR zitiert hierzu die passende Stelle aus dem Protokoll: „Frage: Wurde bei dem Treffen über Finanzielles gesprochen? Antwort: Wir wurden nach unseren finanziellen Hintergründen gefragt. Keine Ahnung warum. Frage: Vorher [im nicht protokollierten Abschnitt] haben Sie noch gesagt, dass Sie Geld zur Verfügung stellen wollten. Antwort: Nein. Ich habe gesagt, ich habe nur ein bisschen. Wofür das gebraucht wurde, wurde in meiner Anwesenheit nicht gesagt.“

„Er hat immer versucht, sich rauszureden“

Der Zeuge fügt an, dass sich dieses Verhalten in seinen Gesamteindruck von W. in diesem Verhör einfüge: „Er hat immer versucht, sich rauszureden. Angeblich wusste er zu vielem nichts, oder die anderen haben ihm nichts gesagt.“

Nun knüpft der VR an einen Vorwurf von Thorsten W. an: Dieser hatte sich bei seiner Aussage zu Beginn des Verfahrens beklagt, man habe ihm gesagt, nach der Vernehmung könne er wieder nach Hause gehen. „Haben Sie eine Erinnerung daran, wie es zu der Entscheidung kam, dass er verhaftet und zum BGH geflogen werden sollte?“ Das sei während der Vernehmung telefonisch übermittelt und direkt auch dem Beschuldigten mitgeteilt worden, so der Zeuge. Ob jemand W. vorher gesagt habe, dass er nach der Vernehmung nach Hause gehen dürfe, wisse er nicht.

„Alles nicht ganz glaubwürdig“

Der VR gibt das Fragerecht weiter. Steffen B.s Verteidiger Ried beginnt und will wissen, woher der Eindruck des Zeugen kam, dass Thorsten W. sich bei seiner Vernehmung rausreden wollte. „Als Sie das so sagten, dachte ich, dass Sie irgendein Vorwissen gehabt haben müssen, um das Urteil abgeben zu können. Was war Ihnen bekannt?“ Der Zeuge widerspricht. „Ich hatte bis zu dem Morgen kein Vorwissen. Aber ich mache den Job jetzt seit zig Jahren. Das klang für mich einfach alles nicht ganz glaubwürdig.“

Was er am Morgen der Razzia genau erfahren habe, fragt der RA. „Dass wir bei W. durchsuchen und er Mitglied einer terroristischen Vereinigung sein könnte.“ Ob er Schriftstücke gelesen habe, um sich einzuarbeiten, könne er nicht mehr sagen. Der RA fasst zusammen: „Würden Sie mir widersprechen, dass Ihr Eindruck eigentlich nur ein Gefühl war?“ Der Zeuge pflichtet ihm bei: „Genau, so ein Gefühl. Sagte ich ja auch.“ Der RA fragt den Zeugen außerdem, ob ihm der Name Paul-Ludwig U. etwas sage. Der Zeuge verneint.

„So ein bisschen rumgedruckst“

Auch Marcel W.s Verteidiger Picker geht auf die Formulierung des Zeugen ein, seinem Eindruck nach habe W. versucht, sich rauszureden. Der RA fragt, worauf sich das bezog und wie der Zeuge zu diesem Eindruck gelangt sei. „Er hat teilweise widersprüchliche Angaben gemacht und so ein bisschen rumgedruckst. Die Art, wie er das so sagte, wie er sich wand, fand ich komisch.“

RAin Schwaben, Verteidigerin von Markus K., ergreift das Wort und möchte den Tagesablauf des Zeugen am Tag der Durchsuchung detaillierter geschildert bekommen. Dieser zählt auf: Er sei früh aufgestanden und habe sich an der Dienststelle mit den Kollegen getroffen. Sie hätten ihre Dienstwaffen, Unterlagen und weitere Einsatzmittel mitgenommen und seien gemeinsam nach Hamm gefahren, wo sie um 6 Uhr morgens an W.s Adresse eingetroffen seien. „Wir haben uns davor getroffen. Das SEK ist zuerst in die Wohnung gegangen. Wir haben draußen gewartet, bis die die Wohnung freigegeben haben. Danach sind wir dann reingegangen.“

Die RAin fragt, ob die Durchsuchung eine Routinesache für den Zeugen gewesen sei. „Das SEK war ja dabei, daher war das schon etwas Größeres. Aber vom Ablauf her war es eine Routinesache wie jede andere Durchsuchung auch.“ Mehrmals hakt die RAin nach, warum unbedingt an diesem Tag durchsucht werden musste. „Es stand im Raum, dass sich eine terroristische Vereinigung gebildet hat. Da sollte man schon so schnell wie möglich rein, denke ich“, argumentiert der Zeuge. Schwaben: „Und wenn ich Ihnen jetzt sage, dass damals die Bildung der Vereinigung schon ein paar Monate vorher gewesen sein sollte?“ „Das müssen Sie mit dem LKA besprechen“, verweist sie der Zeuge an die leitende Ermittlungsbehörde. Sonst hat niemand Fragen; der Zeuge wird unvereidigt entlassen.

RA Herzogenrath-Amelung: Hätte sich W. als schuldig betrachtet, hätte er keine Aussage gemacht

Anschließend gibt der VR Raum für Erklärungen. Frank H.s RA Herzogenrath-Amelung bezeichnet den Zeugen als „nur sehr oberflächlich informiert“. „Der Eindruck mit dem Rausreden war heiße Luft.“ Außerdem sei „bemerkenswert, dass W. offensichtlich den Eindruck hatte, nichts verbrochen zu haben. Sonst hätte er sicherlich von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht.“ [Gemurmel auf der Anklagebank]

Thorsten W.s RA Kist spricht über den verloren gegangenen Teil des Vernehmungsprotokolls: „Der Verdacht, W. hätte ein umfassendes Geständnis abgegeben, das nicht protokolliert werden konnte, ist jetzt vom Tisch.“

Ansonsten gibt es keine Erklärungen.

Richter Mangold verliest, welche knapp 200 Schriftstücke über die Sommerferien im Selbstleseverfahren abgearbeitet werden sollen. Darunter sind behördliche Daten über einige der Angeklagten, beschlagnahmte Briefe sowie Erkenntnisse über die „Soldiers of Odin“. Damit endet dieser sehr kurze Prozesstag.

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