Beim 77. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ vor dem OLG in Stuttgart-Stammheim wurde am 12. Juli 2022 der Diplompsychologe Friedrich G. befragt, der bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 im LWL-Maßregelvollzugsklinik Schloss Haldem tätig war. Dort war er unter anderem für den heutigen Angeklagten Paul-Ludwig U. zuständig. Wie schon so oft im Laufe des Prozesses ging es um die Frage, ob U. an einer schweren Persönlichkeitsstörung leidet und wie glaubwürdig er ist. Die Verteidigung der anderen Angeklagten versuchte erneut, Zweifel an U.s Glaubwürdigkeit zu säen, sowie daran, dass ihre Mandanten ohne U. überhaupt über Anschläge gesprochen, geschweige denn solche geplant hätten. Der Zeuge G. äußerte sich sowohl kritisch zum Peters-Gutachten also auch zum Kröber-Gutachten über U.
Nach der Belehrung des Zeugen Friedrich G. stellt sich dieser auf Bitte des Vorsitzenden Richters (VR) vor. Er sei 73 Jahre alt, lebe in Bielefeld und sei seit April 2015 nicht mehr berufstätig. In der LWL-Maßregelvollzugsklinik Schloss Haldem habe er vier Jahrzehnte gearbeitet. Dort habe er es mit nach §63 StGB (Unterbringung nach Begehung einer rechtswidrigen Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit) und §64 StGB (Unterbringung drogenabhängiger Straftäter*innen) eingewiesenen Personen zu tun gehabt. Seine Aufgabe sei es gewesen, Behandlungspläne zu erstellen, deren Umsetzung zu überprüfen, prognostische Einschätzungen zu treffen und Verlaufsdokumentationen zu erstellen. Zusammen mit einer Kollegin, mit der er sich die Arbeit geteilt habe, sei er zumeist für 37 oder 38 Patient*innen zuständig gewesen. Hinzu gekommen seien Patient*innen „in Langzeit, also stationär Entlassene“. Anspruch sei gewesen, einmal wöchentlich mit den Patient*innen ein Einzelgespräch und ein Gruppengespräch zu führen.
Berichte an Staatsanwaltschaften, so der Zeuge, seien immer von drei Personen unterschrieben worden, wobei unterschreibende Ärzt*innen selten etwas beanstandet hätten: „Der guckt mal drüber, ob er das mittragen kann.“
An Paul-Ludwig U. könne er sich erinnern, so G. Dieser sei auch noch vor Ort – in einer geschlossenen und gesicherten Station – gewesen, als er in Rente gegangen sei. Danach habe er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Wann U. nach Schloss Haldem verlegt wurde, wisse er aber nicht mehr genau. Hier hilft der VR aus und hält vor, das sei am 14. März 2013 geschehen.
Zeuge widerspricht Borderline-Diagnose von Kollegen
Der Zeuge fährt fort: Gründe für die Verlegung seien vermutlich „Probleme mit Mitpatienten“ gewesen, Näheres wisse er dazu aber nicht. Auf die Frage des VR, ob U.s Kontakt zum WDR auch eine Rolle gespielt haben könnte, antwortet Friedrich G., dass das „offiziell immer zurückgewiesen“ worden sei; er wisse von dieser Möglichkeit auch nur von U., der darüber spekuliert habe. U. habe berichtet, er habe Missstände in der Klinik offengelegt und sei somit zum „unbequemen Patienten“ geworden.
Der VR fragt, wie die ersten Kontakte zu U. verlaufen seien. Der Zeuge antwortet, dass U. sehr aktiv den Kontakt gesucht habe und ein kommunikationsfreudiger Mensch sei. U. wisse aber auch, „andere Menschen zu manipulieren“. U. habe sich „mitleidheischend“ geäußert und häufig herumgejammert, da ihm angeblich Unrecht angetan worden sei. Er sei U. quasi jeden Tag auf Station begegnet: „Der drängt sich auf.“ U. habe nicht selten angekündigt, sich bei der Klinikleitung zu beschweren, in der Regel über Dritte, zum Beispiel Ärzte.
Der VR fragt, inwiefern bei U.s Einlieferung eine Anamnese erfolgt sei oder ob lediglich der bisherige Befund bzw. diagnostische Eckdaten übernommen worden seien. Der Zeuge erwidert, dass zunächst der Befund übernommen worden sei, aber Befunde unterlägen einer ständigen Überprüfung. Es sei ein eigener Behandlungsplan erstellt worden auf Grundlage der Diagnose „emotional instabil“, also ein spezielles Therapie-Programm für impulsgestörte Patient*innen angewendet worden. Hierbei gehe es darum, „schädliche Impulse“ unter Kontrolle zu bekommen. Eine Borderline-artige Störung „in klassischer lehrbuchartiger Form“ sei bei U. jedoch nicht feststellbar gewesen – aber Ansätze davon.
U. habe sich ohne Schwierigkeiten eingefügt, so der Zeuge. Absprachen habe er eingehalten, zumindest kurzfristig. Längerfristig habe es manchmal Probleme gegeben. U. habe tendenziell die Diagnose in Frage gestellt und zum Ausdruck gebracht, dass er zu Unrecht im Maßregelvollzug festgehalten werde: „Das hat sich schon im Laufe der Zeit verdichtet.“
Vom VR dazu befragt, was der offenbar kommunikationsfreudige U. denn über sich erzählt habe, antwortet der Zeuge, dass ihm bestimmte familiäre Bindungen viel bedeutet hätten, wie die zu seinem Großvater. Man habe auch ausführlich über seine teils verheerenden Straftaten gesprochen. Sein Verhältnis zu U. beschreibt der Zeuge als „recht gut“, „im erforderlichen Umfang belastbar“, aber nicht freundschaftlich, sondern professionell geprägt – Letzteres sei für ihn „immer klar“ gewesen.
Eine vorsichtig positive Prognose
Der VR hält aus dem Gutachten zu U. von Dr. Peters vor. Darin sei zu lesen, dass U. den Zeugen G. als seinen „Opa“ bezeichnet habe – und zwei Ärzte als „Papas“. Und dass U. in der Klinik erstmals Vertrauen zu Menschen aufgebaut habe. An die Bezeichnung „Papas“ für die „Ärzte“ kann sich der Zeuge erinnern, an „Opa“ nicht. U. sei in der Klinik nach und nach „aufgetaut“, aber das sei zuweilen („etwas sinusförmig“) auch ins Gegenteil umgeschlagen.
Der VR spricht die Einschätzung von Dr. Peters an, dass die Arbeit mit älteren Therapeuten gut für U. gewesen sei. Er möchte wissen, ob das der Grund dafür gewesen sei, dass der Zeuge U. übernahm. G. antwortet, das sei Zufall gewesen, aber tatsächlich habe U. Schwierigkeiten mit Jüngeren gehabt. Im Laufe der zwei Jahre, in denen er mit U. gearbeitet habe, habe sich der diagnostische Schwerpunkt verlagert, so G. Dissoziale Störungen in U.s Leben seien in den Vordergrund gerückt, zumindest habe er diese zuvor nicht so stark wahrgenommen. Aber das könnte mit Schnittmengen zu Impulsstörungen zusammenhängen.
Der VR liest aus einem Schreiben des Zeugen vor, in dem dieser von „deutlichen Fortschritten“ bei U. sprach. Man könne „vorsichtig von einer günstigen Prognose ausgehen“. Der VR möchte wissen, worin diese „Fortschritte“ bestanden hätten. Der Zeuge kann sich daran nicht mehr erinnern.
U.s Konflikte und die Suche nach Wertschätzung
Zudem spricht der VR eine mehrstündige „Entweichung“, also Flucht von U. aus der Maßregelvollzugsklinik an – möglicherweise, weil sich U. überfordert gefühlt habe, als er bemerkt habe, dass er sich sexuell zu männlichen Jugendlichen hingezogen fühlte. Dazu kann der Zeuge nichts sagen. Die „Entweichung“, aber auch – laut Dr. Peters – Konflikte mit Mitpatienten, hätten eine temporäre Überstellung in die LWL-Maßregelvollzugsklinik Rheine zur Folge gehabt, so der VR. Danach sei U. wieder zurück nach Stemwede verlegt worden.
Der Zeuge bestätigt, dass U. öfter Konflikte mit Mitpatienten und Personal ausgetragen habe – und diese Konflikte auch häufig selbst gesucht habe, sehr oft mit dem pflegerisch-erzieherischen Stationsleiter. Dabei sei es U. zumeist darum gegangen, wertgeschätzt zu werden. Zwischen ihm selbst (G.) und U. sei nie etwas eskaliert, es habe zwar schon mal Konflikte im Sinne von Meinungsverschiedenheiten gegeben, jedoch nichts Außergewöhnliches.
Der VR hält aus dem Gutachten von Hans-Ludwig Kröber vor. Darin heißt es, dass die temporäre „Entweichung“ von U. nach Hagen eher mit einem Konflikt mit G. zu tun gehabt habe. Der Zeuge betont noch einmal, dass es „natürlich“ einzelne Meinungsverschiedenheiten mit U. gegeben habe, mehr aber auch nicht.
Der VR zitiert aus einem Bericht des Zeugen über U. an die Staatsanwaltschaft Münster. Darin schrieb G. von einer derzeit stabilen und vertrauensvollen Beziehung in der Arbeit mit U. Unklar sei aber noch, ob U. auch Stresssituationen gewachsen sei.
„Beleidigte Leberwurst“
Der Zeuge betont noch mehrmals, dass er deutliche Fortschritte bei U. festgestellt habe, trotz des temporären Aussetzers („Entweichung“). „Mein Eindruck, als ich ausschied: Das läuft.“ Es habe „sich einiges verändert in punkto emotionale Störungen und Impulskontrolle“. Dennoch sei noch nicht sicher gewesen, dass U. sich auch in Stresssituationen unter Kontrolle habe. Er könne sich nach der Zeit in Rheine aber an keinerlei körperliche Übergriffe durch U. erinnern. U. habe in der Klinik ein Einzelzimmer gehabt, also einen Rückzugsraum, um sich unerwünschten Situationen wie drohenden Eskalationen zu entziehen. Das sei Teil der Therapie gewesen und habe funktioniert.
Rückblickend spricht der Zeuge bei U. von einer narzisstischen Neigung („weniger Borderline“). U. habe sich gerne im Mittelpunkt sehen wollen und Kritik nur bedingt zugelassen. Er habe sich aufgedrängt. Der Umgang in der Klinik damit war „Nichtbeachtung, oder auch mal Zusammenstauchen“. U. habe dann „gegrummelt, gemuffelt“. Hin und wieder habe U. auch Fehler eingestanden. Er sei „leicht kränkbar“ gewesen: „Sensitive Reaktionen, beleidigte Leberwurst“. Der Grund für U.s Geltungsdrang sei „familiäre Vernachlässigung“.
Auf die Frage des VR zu den Aktivitäten U.s im Maßregelvollzug antwortet G., dass U. „sehr begehrt bei sportlichen Aktivitäten“ gewesen sei. Ihm sei auch eine Berufsausbildung angeboten worden, aber die habe U. nach kurzer Zeit beendet – „wie viele andere Möglichkeiten in seinem Leben“.
Zeuge hält Einschätzung seiner Kollegen zu U. für übertrieben
Der VR möchte wissen, ob U. das Bedürfnis hatte, „sich als einzigartig zu präsentieren“. Antwort des Zeugen: „Da gab es so etwas, aber so wie Sie es formuliert haben, ist das zu stark.“ Der VR hakt nach und hält Aussagen anderer Zeug*innen vor, in denen diese vor Gericht berichtet hätten: „Wenn U. etwas erzählt, ist das immer dramatisch.“ U. brauche stets „eine Bühne, um sich darzustellen“. Der Gutachter Dr. Peters habe sogar von „Grandioserleben“ und „Einzigartigkeit“ gesprochen. Der Zeuge bleibt bei seiner Einschätzung. An der Tendenz sei schon etwas dran, aber: „Das teile ich nicht so groß.“
Der VR fragt nach „manipulativen Zügen“ bei U. Der Zeuge erzählt ein Beispiel, das es allerdings nicht so ganz treffe: U. und er hätten einmal im Rahmen der Therapie U.s Heimatdorf besucht, um U.s Problemen näherzukommen. Für U. sei das eine große Sache gewesen, er habe seinen Auftritt gründlich vorbereitet und ihn zudem „ausgetrickst“, indem er im Vorfeld vor Ort einen großen Topf Erbsensuppe bestellt habe, dann aber nicht zahlen konnte und die Rechnung dem Zeugen überlassen habe. Insgesamt halte er U. für „überdurchschnittlich intelligent“.
Der Typ „Losrennen und nicht zu Ende denken“
Der VR fragt nach Alkohol- bzw. Suchtproblemen. G. spricht davon, dass U. „auch bei uns in der Klinik die eine oder andere Suchtmittelepisode“ gehabt habe. U. habe sich auch selbst als suchtmittelmissbrauchender Mensch beschrieben, insbesondere mit Rückblick auf seine Zeit vor dem Klinikaufenthalt. Suizidal sei U. aber nicht gewesen, so G. Während des Klinikaufenthalts habe U. sich auch nicht selbst verletzt. Depressive Stimmungen seien nicht feststellbar gewesen, dafür aber „Missstimmungen“ und „Stimmungsumschwünge“. Der VR möchte wissen, ob U. eher der Typ „Durchdenken“ oder eher der Typ „Losrennen und nicht zu Ende denken“ sei. Der Zeuge antwortet: „Der 2. Typ.“ Danach vom VR befragt, gibt G. an, er habe „kein Bild von der sexuellen Orientierung“ U.s gewinnen können.
Der VR spitzt auf die Gesamteinschätzung G.s über U. zu. Der Gutachter Peters habe geschrieben, dass G. die Tendenz narzisstische Störung bestätigt habe. Borderline stehe aber nicht im Vordergrund. G. würde U. auf eine „Langzeitbeurlaubung“ vorbereiten. Der VR möchte wissen, ob G. damals ein „gravierendes Narzissmusproblem“ diagnostiziert habe. G.s Antwort: „Gravierend würde ich nicht sagen. Nicht pathologisch. Narzisstische Tendenzen. Boderlinestörungen traten immer mehr in den Hintergrund.“
G. sagt aus, er sei mit U. das Peters-Gutachten „Satz für Satz durchgegangen“. Dieses sei ihm (G.) „zu einseitig“ gewesen. Von Seiten der Klinik habe man sich durch das Gutachten nicht überzeugen lassen und die bisherigen Therapievorhaben weitergeführt. Es habe auch bereits Überlegungen gegeben, U. in ein betreutes Wohnen in Minden zu überführen, wo es „ein gutes Angebot“ gegeben habe. Letztendlich sei das aber gescheitert, die Gründe hierfür seien ihm nicht erinnerlich. G. betont: „Die Richtung stand aber nicht in Frage.“
Fragen vom psychologischen Sachverständigen
Da der Senat keine Fragen mehr an den Zeugen hat, wird dieser nun vom Sachverständigen Winckler befragt. Winckler will im Klinikbericht vom 29. November 2015 (als G. schon in Ruhestand war) einen Widerspruch erkannt haben. Auf der einen Seite widerspreche die Klinik Peters, auf der anderen Seite habe sie die Lockerungsplanung aufgrund des von Peters diagnostizierten weiteren Therapiebedarfs über den Haufen geworfen, also kein betreutes Wohnen mehr angestrebt. Der Zeuge antwortet, dass „niemand in der Klinik vom Ende der Therapie gesprochen“ habe, „aber sehr wohl von anderen Rahmenbedingungen“.
Anschließend geht es in der Befragung durch Winckler um U.s Therapieabbruch im März 2015. U. habe in einem Schreiben von „Vertrauensbruch“ gesprochen und seine „Rückverlegung in den Strafvollzug“ beantragt. G. sieht den Grund hierfür im Peters-Gutachten.
Winckler hakt nach zu U.s Bedürfnis nach Wertschätzung: „Geht er dafür ‚über Leichen‘? Also über das Normale hinaus?“ Der Zeuge antwortet: „Wenn man das auch auf Bewundern erweitert, dann ja. Da gab es diese Tendenz.“ U. habe täglich appelliert, ihn wertzuschätzen. Winckler hakt nach zum Thema Manipulierung und spricht die Erbsensuppe an: „Ist das denn manipulativ, wenn er Sie austrickst?“ Antwort G.: „Wenn er vorgibt, das zahlen zu können, geht das schon in diese Richtung.“ Winckler möchte wissen, ob U. ihn (G.) „umschmeichelt“ habe, „um eine günstige Beurteilung zu bekommen“. G. antwortet, dass er das nie erlebt habe. Winckler fragt, ob U. Mitpatienten oder Personal gegeneinander ausgespielt habe. Daran kann sich der Zeuge nicht erinnern.
Zeuge sieht bei U. „noch viel zu tun“ für eine bessere Zukunft
Winckler möchte zudem u.a. wissen,
- ob U. das Bedürfnis habe, im Mittelpunkt zu stehen. Antwort. „Ja!“
- wie sich U. in Gruppengesprächen verhalten habe. G. antwortet, dass U. sich „konstruktiv eingebracht“ habe, sich auch habe befragen lassen und Mitpatient*innen „Raum gelassen“ habe.
- ob bei U. eine „maligne Verhaltensweise“ feststellbar gewesen sei, also ob er beispielsweise andere fertig- oder schlechtmachte. G. weicht etwas aus und spricht davon, dass „Herabwürdigung im Knast und in der Forensik normal“ seien. U. habe „nichts anbrennen lassen“ und „verbal Paroli geboten“, wenn andere versucht hätten, „ihn klein zu machen“ – allerdings nicht „in besonders auffälliger Weise“.
- wo der Zeuge U. auf einer Skala 1 bis 10 einschätzt, wenn 1 „total gesund“ bedeutet. G.: „Bei 6.“ Er sehe „viele gesunde Anteile“, aber es sei „noch viel zu tun. Wenn er nichts tut, werden auch die nächsten Jahre so ablaufen wie die ersten.“
Zeuge erlebte U. als „völlig unpolitisch“ und auf sich selbst fokussiert
Auch die Verteidiger*innen haben Fragen an den Zeugen. Frank H.s Rechtsanwalt (RA) Herzogenrath-Amelung fragt den Zeugen nach Prof. Kröber [dessen Gutachten U. die ersehnte Entlassung brachte]. Der Zeuge gibt an, dass er Kröber nicht persönlich kenne, aber das eine oder andere Gutachten von ihm gelesen habe. „Meine Meinung ist, dass er gutachterlich überschätzt wird.“
Tony E.s RA Becker möchte von G. wissen, ob U. ihm gegenüber seine politische Meinung geäußert habe und ob G. von den Vorwürfen gegen U. überrascht gewesen sei. Der Zeuge verneint ersteres und äußert zudem, dass er sogar sehr überrascht gewesen sei. Er habe U. „völlig unpolitisch“ erlebt: „Nur seine eigenen Belange waren interessant für ihn.“
Werner S.‘ RA Siebers spricht die Stichworte: „mitleidheischend“ und „familiäre Vernachlässigung, die er erleiden musste“ an. Seine Frage: „Haben Sie das mit der Vernachlässigung überprüft?“ Der Zeuge verneint. Sein Wissen hierzu habe er von U. selbst und aus Berichten der „Vorbehandler“. Siebers spitzt seinen Vorstoß zu: „Andere Gutachter haben das eventuell auch nicht überprüft. Kann es sein, dass das unter ‚mitleidheischend‘ fällt.“ G.s Antwort: „Möglich“.
RA Siebers thematisiert, dass die Exploration für das Kröber-Gutachten über U. nur eine Stunde und 35 Minuten Zeit in Anspruch genommen habe. Er möchte wissen, ob das ausreichend für einen derart „komplizierten Fall“ wie U. sei. Der Zeuge verneint: Das sei „unprofessionell“.
Jeder will wichtig sein und gebraucht werden
Auf die weitere Befragung der Verteidiger*innen äußert der Zeuge, dass
- U. dazu neige, „einen in lange Gespräche zu verwickeln“ und dabei „gerne auch mal das 1.000. Argument aus der Tasche“ ziehe. „Er ist nicht so schnell zufriedenzustellen.“
- U. sofort aktiv werde („losrenne“), wenn Aussicht auf einen persönlichen Vorteil für ihn bestünde.
Wolfgang W.s RAin Rueber-Unkelbach möchte wissen, ob sich der Zeuge damals mit U. darüber unterhalten habe, „wie er sich sieht, nachdem er aus dem Maßregelvollzug raus ist“. G.: „Nein, so explizit nicht.“ Man sei sich aber einig gewesen, dass U. sich auf zwischenmenschliche Bindungen, aber auch auf berufliche Perspektiven einlassen müsse und diese nicht einfach beenden dürfe, wenn es mal unbequem werde. U. habe in seinem Leben einiges angefangen, aber immer wieder „fix in den Sack gehauen“. Das habe u.a. mit seinen Stimmungsschwankungen zu tun. Zudem habe U. seine Möglichkeiten offenbar nicht realistisch eingeschätzt. Es fehle ihm an Geduld zur angemessenen Umsetzung.
Auf Nachfrage, ob U. anfällig dafür sei, wenn andere ihm das Gefühl geben, wichtig zu sein und gebraucht zu werden, antwortet G.: „Das wäre bei jedem so. Dann wird er fünf Zentimeter größer.“
Zeuge sieht U. nicht als Lügner, aber als „Übertreiber und Verzerrer“
RAin Rueber-Unkelbach fragt, wie es zu dem Kröber-Gutachten gekommen sei, also wer das – offenbar auf Drängeln von U. – bei Kröber in Auftrag gegeben habe. Der Zeuge antwortet: „Ich war es nicht. Wer von der Klinik.“ Die Klinik suche sich geeignete Gutachter aus einer LWL-Liste aus. Wer konkret Kontakt zu Kröber aufgenommen habe, wisse er nicht. Der Zeuge berichtet über zwei Fälle, bei denen Personen über ein Gutachten Kröbers freigekommen seien – mit fatalen Folgen. Das Gutachten sei „in der Quintessenz daneben“ und spiegele die persönlichen Verhältnisse U.s nicht wider.
Die Frage von Marcel W.s RA Picker, ob es bei U. nicht nur Fortschritte, sondern auch „Rückschritte in alte Verhaltensmuster“ gegeben habe, bejaht der Zeuge. Von Picker nach dem Wahrheitsgehalt von U. Aussagen befragt, antwortet er, dass er nicht den Eindruck gehabt habe, dass U. ein Lügner sei, „eher ein Übertreiber und Verzerrer“. U. habe sich in Szene setzen können, von „schauspielerischen Fähigkeiten“ zu reden, sei aber zu hoch gegriffen.
Michael B.s RA Mandic spricht den Zeugen auf U.s Doppelrolle im hiesigen Verfahren [Angeklagter und zugleich Hinweisgeber der Polizei] und seine mutmaßliche Motivation – Wiedergutmachung und Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm – an. G. äußert, dass für ihn derartige Motive bei U. schwer nachvollziehbar seien.
RA Mandic hält U.s Doppelrolle weiterhin für ein Hindernis des Verfahrens
Nach der Entlassung des Zeugen haben alle Prozessbeteiligten die Möglichkeit, Erklärungen anzugeben. Frank H.s RA Herzogenrath-Amelung möchte festgehalten wissen, dass U. überdurchschnittlich intelligent sei, gerne im Mittelpunkt stehe und nach Anerkennung strebe. Es sei bei U. immer unklar, was Wahrheit und was Übertreibung sei. RA Picker betont, dass die Schilderungen des Zeugen hinsichtlich der Persönlichkeitsstruktur von U. „exakt“ mit dem übereinstimmen würden, was sein Mandant Marcel W. über U. ausgesagt habe.
RA Mandic zeigt sich zufrieden mit der Aussage des Zeugen. G. habe ein gutes Bild geliefert von U. Dieser habe nach Aufmerksamkeit gestrebt, zuerst seitens der Presse, danach habe er sich in den Sozialen Medien getummelt. Hierbei sei er an einen Kreis geraten, der von seiner 20-jährigen Haft beeindruckt gewesen sei. Als er dann Teil dieses Kreises wurde, habe er sich gefragt, welchen Vorteil er daraus ziehen könne, sich der Polizei angeboten und kräftig aufgebauscht. Laut RA Mandic besteht damit nach wie vor ein „Verfahrenshindernis“, weswegen das Strafverfahren einzustellen sei.
Zum Ende des Prozesstages geben einige Verteidiger*innen noch Stellungnahmen zu anderen Themen ab. U.a. geht es um den Ausfall eines Prozesstages aufgrund eines parallelen Termins des VR – nach Auffassung einiger Verteidiger*innen ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz (beschleunigte Durchführung von Strafverfahren).
Beweisantrag zur Observation von Thomas N.
RA Picker beantragt, dem Leiter der LKA-„Soko Valenz“, KHK Michael K., aufzuerlegen, ein Organigramm der „Soko Valenz“ zu erstellen. Dieses diene dem Verständnis der polizeilichen Ermittlungen. K. habe von einem solchen Organigramm besprochen, das sich in den Polizeiakten befinde. Die Anklagebehörde tritt dem Antrag entgegen. Es handle sich hierbei um interne polizeiliche Unterlagen. Diese seien auch nicht nützlich für das Verfahren. Die Zuständigkeiten ergäben sich aus den Akten. Die meisten anderen Verteidiger*innen schließen sich Pickers Antrag an.
Die Verteidigung von Thomas N. stellt einen Beweisermittlungsantrag zur Observation ihres Mandanten. Sie möchte wissen, auf welcher Rechtsgrundlage das geschah, welche Erkenntnisse gewonnen und Maßnahmen durchgeführt worden seien, und ob „mitgehört“ worden sei.