Prozesstag 74: Zwei Befangenheitsanträge gegen den Richter

Am 74. Prozesstag, dem 30. Juni 2022, war die Zeugin Angela M. (25) geladen. Sie war beim LKA beteiligt an den Ermittlungen gegen Tony E., insbesondere an der Auswertung zweier Handys, die bei ihm beschlagnahmt wurden. Die Zeugin gab Auskunft über technische Details zur Auswertung der Daten. Das LKA fand auf E.s Handy hunderte Chatverläufe und zehntausende Nachrichten und Audios. Manche Nachrichten hatte E. gelöscht, einige von ihnen konnte das LKA aber wiederherstellen. Einige Audios konnten nicht abgespielt werden oder waren zwar auffindbar, konnten aber keinem Chatverlauf zugeordnet werden. Die Zeugin erwähnte, dass man durch die Datenauswertung auf eine Lüge von Werner S. aufmerksam geworden sei: Dieser habe in einer Nachricht behauptet, er sei gerade in Italien, während die Standortdaten seines Handys belegten, dass er sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Heimatstadt Mickhausen aufhielt. Gegen Ende des Prozesstags stellten die Verteidiger von Tony E. und Thomas N. Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden Richter (VR), weil er den vorigen Prozesstermin (28. Juni 2022) abgesagt hätte, um an einer Podiumsdebatte zum Thema „Wehrhafte Demokratie“ teilzunehmen.

Zu Beginn des Prozesstags verkündet der VR, dass Rechtsanwalt (RA) Ried heute wegen Krankheit verhindert sei. Anschließend erklärt er die neue Hygieneverordnung wegen der Corona-Pandemie: Er werde nicht mehr abfragen, wer sich getestet habe. Tests für die Wachtmeister*innen seien künftig freiwillig. Wer sich nicht an die Verordnung halte, beispielsweise keine FFP2-Maske trage, werde des Hauses verwiesen.

RA Becker und RA Sprafke kündigen an, einen Befangenheitsantrag stellen zu wollen. Der VR will aber erst die Zeugin vernehmen, die für heute geladen ist. RA Becker beantragt dagegen einen Gerichtsbeschluss, der VR lehnt ab. RA Sprafke beantragt einen Senatsbeschluss. Oberstaatsanwältin (OStAin) Maslow beantragt, im Senatsbeschluss das Vorgehen des VR zu bestätigen; es drohe kein Rechtsverlust. Nach einer kurzen Pause verkündet der Senat, erst die Zeugin zu hören und dann die Anträge der Verteidiger.

Tony E.s „Personensachbearbeiterin“

Die Zeugin Angela M. (25) betritt den Saal und wird über ihre Rechte und Pflichten belehrt. Die Zeugin fasst kurz ihren beruflichen Werdegang zusammen: Im September 2016 habe sie ihre Polizeiausbildung in Biberach begonnen, sei danach zur Bereitschaftspolizei in Göppingen gekommen und im September 2019 zum LKA Baden-Württemberg in die Abteilung 6 (Unterstützungskräfte) gewechselt. Im Oktober 2021 habe sie auf eigenen Wunsch die Polizei verlassen, um ein Lehramtsstudium zu absolvieren. „Bei der Polizei haben mich einige Dinge gestört. Ich konnte mich damit nicht mehr identifizieren.“

Beim LKA habe sie in der Inspektion 610 [Teil der Staatsschutz-Abteilung] gearbeitet und sich dabei auch um die Ermittlungen gegen die „Gruppe S“ gekümmert: „In der verdeckten Phase war ich viel in der TKÜ [Telekommunikationsüberwachung] eingesetzt.“ Anschließend sei sie „Personensachbearbeiterin“ für Tony E. gewesen und auch zu Durchsuchungen und Vernehmungen mitgekommen. In der „offenen Phase“ sei sie mit der Datenauswertung beschäftigt gewesen.

Der VR fragt nach der Auswertung von Tony E.s Handy, an der die Zeugin beteiligt war. M. führt aus: Zuerst habe sich darum nur die Kollegin Me. gekümmert, da sie sich nach der Durchsuchung den Fuß gebrochen habe. Die Kollegin habe angefangen, das Handy zu sichten und alles aufzuschreiben, habe die Inspektion dann aber verlassen. Anschließend habe sie sich selbst darum gekümmert und den Bericht „immer wieder abgeändert“ – allerdings kaum inhaltlich, sondern eher strukturell. Der VR verliest die Unterschrift unter der Auswertung: „M., im Auftrag Me.“ Laut Akten sei das Handy vom 9. März bis zum 18. Mai 2020 ausgewertet worden.

832 Chatverläufe mit 34.759 Nachrichten

Die Zeugin erklärt auf Nachfrage, ihre Kollegin Me. habe mithilfe eines Auswertungsprogramms die Anrufprotokolle, Chatverläufe und Kontakte aus Tony E.s Handy übertragen. Die Abteilung 520 [zuständig für Cybercrime] habe die Daten „aufgearbeitet, aufgedröselt und aufgeschlüsselt“. Die Abteilung habe alle Inhalte des Asservats auf einem Auswertungs-PC gespeichert, und der habe dann im Auswertungsprogramm Tabellen erstellt, die Nachrichten und Nummern den Kontakten im Handy zuordneten. Der VR will wissen, ob die Akten-Daten zu E.s Handy alle aus dem Gerät stammen würden oder aus anderen Erkenntnisquellen ergänzt worden seien. „Nein, die sind alle aus dem Asservat“, erwidert die Zeugin. Sie selbst habe das Handy aber nie in der Hand gehabt, abgesehen vom Tag der Durchsuchung, sondern nur mit den Daten der Kollegen gearbeitet. Die Handynummer ende auf 230. Woher sie das wisse – aus der Datenauswertung oder der TKÜ – weiß die Zeugin nicht mehr.

Der VR fragt nach den Telegram-Chats, die auf dem Handy gesichert wurden, und listet auf: „832 Chatverläufe mit 34.759 Nachrichten, 750 Chatverläufe sind ohne Inhalte.“ Die Zeugen erinnert sich an „viele gelöschte Nachrichten“, „viele Chats wurden mit ‚kein Inhalt‘ ausgespuckt“. Manche davon habe die Abteilung 520 wiederherstellen können, aber an diesem Punkt ist sich die Zeugin nicht mehr ganz sicher. Einige der Chatverläufe seien ausgedruckt worden und Teil der Akte, andere nicht. Wie genau das entschieden wurde, weiß die Zeugen nicht mehr. Bei manchen habe man die Inhalte für „unrelevant“ befunden, das dann aber in den Akten „deutlich markiert“.

„Es waren sehr viele Gruppen, aber Herr E. hat sich daran nicht so viel beteiligt“

Anschließend will der VR mehr über die gefundenen WhatsApp-Chats wissen. „Es waren sehr viele Gruppen, aber Herr E. hat sich daran nicht so viel beteiligt. Es gab viele Nachrichten von Personen, die wir im Verfahren gar nicht kannten und die nicht relevant waren“, erinnert sich die Zeugin. Der VR verliest: „Insgesamt 416 Chats und 80.352 Nachrichten auf WhatsApp.“ Die Zeugin merkt an, auch hier habe ihre Kollegin Me. entschieden, welche Nachrichten „man weiter in den Blick nimmt“. Teilweise, erklärt die Zeugin auf Nachfrage, hätten Kollegen händisch die Verschriftlichung von Sprachnachrichten in die Auswertungstabelle aufgenommen. Der VR ergänzt, auf E.s Handy seien 7.758 Audiodateien gespeichert gewesen, die man keinem Chatverlauf habe zuordnen können. Außerdem seien 5.439 Audios gelöscht und nicht mehr abspielbar gewesen.

Der VR fragt nach einem Vermerk zu E.s Handy, den am 4. Juni 2020 neben der Zeugin M. auch ihre später ausgeschiedene Kollegin Me. sowie ein Beamter Wi. unterschrieben hätten. [Vermutlich geht es hier um ein zweites Handy von E.] Er will wissen, wer der drei Personen welche Aufgaben erledigt habe. Die Zeugin sagt, das wisse sie nicht mehr genau. In ihrer Erinnerung habe der Kollege Wi. die Sprachnachrichten ausgewertet. Sie und Me. hätten Chats und Anrufprotokolle ausgewertet. Bilder habe Me. gesichtet, Videos sie selbst. Wie lange das gedauert habe, weiß die Zeugin auch nicht mehr. Sie bestätigt auf die Frage des VR, dass sie dieses Handy direkt ausgewertet habe: Es habe ein Windows-Betriebssystem, das nicht mit dem Auswertungsprogramm kompatibel sei, darum habe man abgesehen von Bildern und Videos alles händisch auswerten müssen. Der VR zitiert aus der Akte: „Im vorliegenden Mobiltelefon ist weder eine Simkarte noch eine Speicherkarte vorhanden.“

Weiter erklärt er, laut der Akte habe die Zeugin beim Unternehmen Telefónica schriftlich etwas angefragt. Worum es da ging? Die Zeugin vermutet, dass sie so versucht habe, die Rufnummer einer bei E. gefundenen Simkarte zuzuordnen. Der VR will wissen, ob die Simkarte auch im gefundenen Handy genutzt wurde. Die Zeugin sagt, sie könne sich nicht erinnern, ob man das klären konnte.

20 Telegram-Chats und Probleme mit fehlenden Nachrichten

Nun fragt der VR nach den manuell ausgewerteten Telegram-Chats: „Es wurden insgesamt 20 Chats festgestellt. Waren Sie damit befasst?“ „Ich kann mich erinnern, dass ich durch die Chats scrollte“, antwortet die Zeugin. Außerdem habe sie die Bilder [vermutlich Screenshots der Chats] gesehen, die der Kollege Wi. gemacht habe. „Gab es dabei Komplikationen?“, fragt der VR. Die Zeugin bejaht: „Es fiel uns auf, dass immer nur 25 Nachrichten angezeigt wurden.“ Der Beamte V. von der Abteilung 520 habe ihnen dabei geholfen, weitere Nachrichten zu sichern.

Der VR will sichergehen, dass die exportierten Daten des Auswertungsprogramms auch wirklich die Daten des Handys spiegeln. „Wurden bei einem Export Daten geändert?“ „Davon gehe ich nicht aus“, so die Zeugin, sie könne es aber nicht sicher sagen, da sie selbst nichts exportiert habe. Soweit sie wisse, sei es technisch nicht möglich, beim Export etwas zu ändern. Anschließend geht der VR einzelne Ausdrucke von E.s Chatverläufen durch und lässt jeweils bezeugen, dass sie tatsächlich die Daten vom Handy wiedergeben.

Dabei geht es auch um Chats mit dem Kontakt „Thorsten HH“ [vermutlich Thorsten K.] und eine Chatgruppe mit dem Titel „Michel wach endlich auf“. [Unter diesem Namen gingen 2019 extrem Rechte in Hamburg auf die Straße, die sich vormals unter dem Motto „Merkel muss weg“ versammelt hatten. Tony E. nahm an einem der Aufmärsche im September teil und stand laut „Exif Recherche“ im engen Kontakt mit drei der Organisatoren: Ralph E., Thomas G. und Thorsten K. https://exif-recherche.org/?p=7045]

Knapp 3.000 Audiodateien konnten keinem Chat zugeordnet werden

Weiter fragt der VR nach einigen von den 2.996 Audiodateien, die auf diesem Handy gefunden, aber nicht zugeordnet werden konnten. Er lässt die Zeugin einzeln bestätigen, dass die Wortprotokolle in den Akten tatsächlich zu Audiodateien auf dem Handy gehören.

Die Zeugin erwähnt, dass ihnen aufgefallen sei, dass Werner S. in einer Nachricht behauptet habe, er sei in Italien, während die Standortdaten seines Handys offenbart hätten, dass er sich tatsächlich in Mickhausen aufgehalten habe. Der VR stellt noch einige weitere Detailfragen dazu, wer welche Daten wie in die Auswertungstabelle eingetragen habe. Dann übergibt er das Fragerecht. Die Vertreterinnen des Generalbundesanwalts (GBA) haben keine Fragen.

RA Herzogenrath-Amelung will wissen, wie entscheiden worden sei, welche Gespräche relevant sind und verschriftlicht werden sollten. Verschriftlicht hätten sie alles, gibt die Zeugin an. Die Entscheidung, was relevant sei, hätten nicht sie, sondern die Hauptsachbearbeiter getroffen.

Auf eine Frage nach der Datenstruktur von Tony E.s RA Hofstätter erklärt die Zeugin, dass sich im Laufe der Ermittlungen viele Richtlinien zur Gliederung von Berichten geändert hätten. Darum habe sie einiges überarbeiten müssen.

Tony E.: Besonders in den wichtigen Chatgruppen schweigsam

Der RA bezieht sich auf eine Aussage der Zeugin, dass Tony E. in manchen Chats nur selten geschrieben habe. Er möchte, wissen, welche sie gemeint habe. Die Zeugin nennt die [für den Prozess besonders relevanten] Gruppen „Heimat“ und „Tutto Ramazotti“ und ergänzt, dass E. generell auch in den anderen Chats nicht viele Nachrichten verschickt habe.

Nun fragt der RA nach den Audiodateien, die man keinem Chat zuordnen konnte. Die Zeugin spricht von einem „Riesenordner“, in dem Sprachdateien, aber auch Wecker- und Klingeltöne gespeichert gewesen seien. „Wir konnten schwer zuordnen, wer spricht. Außer bei den Beschuldigten, wo wir die Stimmen schon gut kannten.“ Aber es sei bei den meisten der Dateien nicht möglich gewesen, sie in einen Chatverlauf einzuordnen. „Es waren eher so Zufallstreffer. Wenn man einen Chat im Kopf hatte und auf eine Audiodatei getroffen ist, die voll reingepasst hat. Das haben wir dann im Auswertebericht so geschrieben: ‚Die Datei könnte als Antwort an dieser Stelle des Chats passen.‘“

Warum sie die Polizei verlassen habe, will der RA noch wissen. „Einige Dinge“, antwortet M. „Ich wollte gern beim LKA bleiben.“ Sie sei dort aber im mittleren Dienst gewesen, ohne Aussicht auf einen baldigen Aufstieg. Außerdem habe sie später die Arbeit bei der Reiterstaffel frustriert. „Wir waren jedes Wochenende da, immer das Gleiche. Ich hatte das Gefühl, ich kann nicht viel bewirken vom Klientel her. Aus meinen Anzeigen wurde nichts.“ Der RA hakt nach: „Ihr Verdruss hat nichts mit dem Verfahren zu tun?“ Die Zeugin verneint.

RA Beckers Zweifel am Beweiswert der Datenauswertung

Tony E.s Verteidiger Becker ist an der Reihe und spricht über die Aussage der Zeugin am heutigen Prozesstag, als sie auf Nachfrage des VR bestätigte, dass einige Daten aus Tony E.s Handy stammten. Woher sie das gewusst habe, fragt der RA. „Ich habe alle Exporte selber persönlich gesehen, aber ich habe auch selber exportiert. Da müssten alle Dateien drauf sein.“ Aber wie die Daten auf den Auswertungs-PC gekommen seien, können sie nicht bezeugen, hakt der RA nach. Die Zeugin verneint: Das habe die Abteilung 520 gemacht. „Wie das technisch funktioniert hat, weiß ich nicht.“ Der RA schließt daraus, dass die Zeugin nicht sicher sagen könne, ob die Daten in den Akten die aus E.s Handy wiedergeben. „Wurden von der Abteilung 520 auch die anderen Telefone der anderen Beschuldigten ausgewertet?“ Die Zeugin bejaht. „Wie konnten Sie dann sagen, dass nicht theoretisch Daten von einem anderen Telefon dazwischengespielt wurden?“ Die Zeugin gibt zu, das könne sie nicht sagen.

Um die Aussage der Zeugin weiter anzuzweifeln, fragt der RA, ob sie die an die Wand des Gerichtssaals projizierten Aktenauszüge, über die sie sagte, sie entsprächen den Daten von Tony E.s Handy, überhaupt in der Kürze der Zeit habe lesen können. „80 Prozent“, behauptet die Zeugin. Der RA kommentiert: „Sie lesen schnell.“

Der RA will außerdem wissen, ob das LKA habe feststellen können, ob empfangene Nachrichten auch tatsächlich vom Handy-Besitzer gelesen worden seien. „Mir geht es um die grauen und blauen Häkchen.“ Die Zeugin sagt: „Ich weiß nicht mehr genau, ob da dranstand ‚gelesen‘ oder ‚nicht gelesen‘“. Dazu könnte die IT-Abteilung 520 aber sicherlich mehr sagen.

Über 9.000 Kontakte auf Tony E.s Handy

Thorsten W.s Verteidiger Kist bezieht sich auf einen Aktenvermerk der Zeugin, laut dem auf E.s Handy 9.300 Kontakte gefunden wurden. „Hat er die alle selbst eingetragen? Das erscheint mir ein bisschen viel.“ Die Zeugin verneint: „Die wurden nur festgestellt.“ [Vermutlich sind darunter auch Kontakte aus Chats, die das Handy automatisch speichert.] Die Zeugin wird unvereidigt entlassen.

Anschließend geben einige RA*innen Statements zu der Zeugin ab. Frank H.s RA Herzogenrath-Amelung beginnt mit Bezug auf den Widerspruch zwischen Werner S.‘ Handydaten und dessen Behauptung, er sei in Italien: Die Aussage sei „interessant, was den S. angeht“. Der Grund für die Lüge sei unklar.

RA Becker bittet um eine Pause: Er und sein Teampartner RA Hofstätter wollen eine schriftliche Erklärung verfassen und sie verlesen. Der VR verspricht, das später zu klären. Erst möchte er den Befangenheitsantrag hören.

Befangenheitsantrag: Tony E.s Vertrauen in den VR „nachhaltig erschüttert“

RA Becker verkündet, sein Mandant Tony E. lehne den VR wegen der Besorgnis einer Befangenheit ab. Der RA holt zu einer längeren Begründung aus: RA Sprafke habe am 73. Prozesstag darum gebeten, wegen eines anderen Termins von der hiesigen Hauptverhandlung am 28. Juni freigestellt zu werden. Der VR habe daraufhin überraschend mitgeteilt, er müsse die Verhandlung am 28. Juni ohnehin aus dienstlichen Gründen aufheben. Auf Nachfrage habe der VR mitgeteilt, er sei an diesem Termin auf einer Dienstreise zum Kongress „Wehrhafte Demokratie“ als Referent des Forums „Unter dem Radar der Zeitenwende“.  Tony E.s Vertrauen in die Unvoreingenommenheit des VR sei „nachhaltig erschüttert“. „Der Vorsitzende zieht die Teilnahme an einem Kongress der Teilnahme an einer Hauptverhandlung vor.“ Man gehe davon aus, dass der VR eine Aufwandsentschädigung für sein Referat bekomme und die Summe hier mitteilen werde. Der RA zitiert von der Webseite des 5-Sterne-Hotels „De Rome“, in dem der VR bei seiner Dienstreise übernachtet habe, über dessen luxuriöse Ausstattung, und bilanziert: „Es handelt sich um eine Vergnügungsreise des Vorsitzenden.“ Der VR messe „mit zweierlei Maß“, da er in diesem Fall nach der Absage von nur einem RA den ganzen Prozesstag habe ausfallen lassen, während er an anderen Terminen eigentlich verhinderte Kollegen verpflichtet habe, doch zu erscheinen. Dass der VR lieber zum Kongress als zum Verfahren gekommen sei, sei eine „bewusste Verletzung des Beschleunigungsgebots bei fortgeltender Unschuldsvermutung“ [mit dem die Strafprozessordnung eine unnötig lange Untersuchungshaft verhindern soll]. Deswegen zweifle Tony E. an der Unbefangenheit des VR. Zusätzlich tue er das aus dem Grund, dass der VR auf dem Panel über „Extremismus und Antisemitismus als Feinde der wehrhaften Demokratie“ gesprochen habe. Tony E. müsse davon ausgehen, das Feindbild dieser Veranstaltung zu sein.

Befangenheitsantrag II: U-Haft vs. „Luxushotel“

Auch RA Sprafke verkündet, dass sein Mandant Thomas N. den VR ebenfalls wegen der Besorgnis der Befangenheit ablehne, und argumentiert ebenfalls mit der Terminaufhebung wegen des Kongresses. „N., seit zwei Jahren in Untersuchungshaft, versteht nicht, warum das Referieren auf einem Kongress der Fortsetzung der Hauptverhandlung zwingend vorzuziehen war. Ferner versteht er nicht, warum das einen dienstlichen Grund zur Absetzung darstellen soll.“ Vielmehr sei es eine Privatsache und verletze daher das Beschleunigungsgebot. Der VR habe behauptet, für das Oberlandesgericht an dem Kongress teilgenommen zu haben, womit ein dienstlicher Grund vorliegen könnte. Der VR habe das aber nicht genauer begründet, daher sei das zweifelhaft. Schließlich hätten vom OLG auch andere Vorsitzende Richter für Staatsschutzverfahren zum Podium fahren können. Außerdem stört sich auch RA Sprafke an der Übernachtung im „Luxushotel“, „während Angeklagte in U-Haft sitzen […], als sei ein inhaftierter Angeklagter nicht wichtig genug“. Für einen Kongress und zum Pandemieschutz lasse der VR einfach Prozesstage ausfallen, während die Bitte, wegen einer anderen Verhandlung einen Tag lang fernzubleiben, verwehrt würde. Der VR habe in vielen E-Mails versprochen, er werde „alles unternehmen“, um die wegen Covid ausgefallenen Prozesstage nachzuholen. Dieses „widersprüchliche Verhalten“ sei „zynisch“. Thomas N. „zweifelt, dass sein Schicksal in den Händen des Vorsitzenden gut aufgehoben ist. […] Er befürchtet, zum bloßen Objekt strafprozessualer Umstände zu werden. […] Der Vorsitzende macht deutlich, dass er mit zweierlei Maß misst.“

Auch Thomas N. selbst schaltet sich ein und beantragt, dass der VR einige Fragen beantwortet: Was die Teilnahme des VR am Kongress samt Unterbringung gekostet habe, wer die Kosten trage und ob der VR selbst ein Honorar bekommen habe. Er schließt mit der Frage, ob der VR den Antrag ausgedruckt oder nur per E-Mail braucht. „Ich erteile keine prozessualen Ratschläge“, erwidert der VR.

RAin Schwaben bittet um eine Pause, um sich mit ihrem Mandanten Markus K. zu besprechen. Der VR unterbricht die Verhandlung bis zum nächsten Hauptverhandlungstag.

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