Am 5. April 2022, dem 66. Prozesstag gegen die „Gruppe S“, wurde ein früherer Gutachter des Angeklagten Paul-Ludwig U. vernommen. Es ging erneut um die Glaubwürdigkeit von U., auf dessen Aussagen sich die Anklage zu großen Teilen stützt. Als Zeuge war Dr. Klaus B. von der psychiatrischen Forensik Dortmund geladen. Paul-Ludwig U. war dort von Februar 2010 bis März 2013 untergebracht. B. beschrieb U. als einen Menschen mit starken Persönlichkeitsstörungen, der zugleich aber auch kommunikativ und intelligent sei. U. erfinde keine Geschichten, schmücke seine Erzählungen jedoch aus und spitze sie zu. Übergriffe erfolgten verbal, nicht körperlich. Abschließend wurden zwei im Herbst 2019 mitgeschnittene Telefonate zwischen Paul-Ludwig U. und dem Zeugen B. aus der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) in das Verfahren eingeführt.
Dr. Klaus B., stellvertretender therapeutischer Direktor und leitender Oberarzt der psychiatrischen Forensik Dortmund, wird in den Zeugenstand gerufen. B. (58) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Der Vorsitzende Richter (VR) erklärt, dass die Zeugenbefragung insbesondere dem Sachverständigen (SV) Dr. Winckler bei der Erstellung seines Gutachtens über Paul-Ludwig U. helfen soll. Für die Befragung hat Paul-Ludwig U. den Zeugen von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbunden.
Der Zeuge beginnt seine Aussagen mit einem Abriss über das Dortmunder Therapiekonzept: Alle Patient*innen bekämen eigene Bezugstherapeut*innen und individuelle Behandlungspläne. Nach Schwierigkeiten im allgemeinen therapeutischen Setting gefragt, gibt B. an, dass es ständig zu Konflikten im therapeutischen Verhältnis und unter den Patient*innen komme. Man versuche, diese Konflikte als Chance zu begreifen, weil sich darin die Krankheitsbilder deutlicher zeigten. Auf die Frage, welche Rolle die Sozialisation für die Krankheitsbilder spiele und welche Möglichkeiten der Maßregelvollzug biete, antwortet Klaus B., das sei schwierig zu beantworten. Man versuche, die Patient*innen dazu zu bewegen, sich selbst besser zu erkennen, zu verstehen und auszuhalten. Er selbst habe Paul-Ludwig U. nicht behandelt, aber als Oberarzt im regelmäßigen Austausch mit den behandelnden Ärzt*innen und Therapeut*innen gestanden. U. habe ihn regelmäßig als eine Art Schiedsrichter oder Autoritätsperson aufgesucht, um bei Konflikten zu vermitteln. Man habe auch über Gott und die Welt miteinander gesprochen. Er (B.) habe seine Aufgabe darin gesehen, Eskalationen und Spannungen auf U.s Station zu vermeiden.
Paul-Ludwig U. eilte ein Ruf voraus
Der VR bittet den Zeugen, sich an die Situation zu erinnern, in der er die Vorladung für die Verhandlung erhalten habe. Welche Erinnerungssplitter an Paul-Ludwig U. habe der Zeuge abrufen können? Oberarzt B. erinnert sich an eine „besondere Persönlichkeit“, der bei der Aufnahme im Februar 2010 „ein gewisser Ruf vorausgeeilt“ sei. Dieser Ruf gründete auf eine Geiselnahme, die Paul-Ludwig U. 2002 in der forensischen Psychiatrie Eickelborn begangen habe. Einige Kolleg*innen seien in der Zwischenzeit von Eickelborn in die 2006 neu eröffnete Dortmunder Einrichtung gewechselt. Man habe U. nicht als Patienten aufnehmen wollen. Da aber eine andere forensische Einrichtung noch nicht fertiggestellt worden sei, sei U. trotzdem zugewiesen worden. Persönliche Ressentiments unter den Kolleg*innen habe er trotz dieser Vorgeschichte nicht wahrgenommen. Man sei zwar wachsam gewesen, habe aber überlegt, wie man konstruktiv mit U.s Situation umgehen könne. U. sei zunächst in einem Kriseninterventionsraum untergebracht und dann schrittweise in den Klinikalltag integriert worden.
„Impulsiv, narzisstisch, sympathisch“
An die Person Paul-Ludwig U. kann sich der Zeuge Klaus B. noch gut erinnern. U. sei sehr präsent und dominant gewesen, habe sich schnell in die Rolle eines „Alpha-Männchens“ auf Station begeben. Er zählt U. zu den stark persönlichkeitsgestörten Menschen. U. sei ein Meister darin, Beziehungen auszutesten. B. beschreibt U. als misstrauischen Menschen. Dies hänge auch mit seiner Borderline-Persönlichkeitsstörung zusammen. Deshalb sei die Therapie immer eine Gratwanderung gewesen: Man müsse zunächst eine Beziehung aufbauen und den Patienten sanft mit seinen Problemen konfrontieren, damit er die Therapie annehmen könne.
Darüber hinaus sei U. „kognitiv gut ausgestattet“. Man habe mit ihm Tests gemacht, die gezeigt hätten, dass er „an der Grenze zur Hochbegabung“ liege. Auf die Frage des VR nach drei Adjektiven, mit denen er Paul-Ludwig U. beschreiben würde, zählt der Zeuge „impulsiv, narzisstisch und sympathisch“ auf. Eindrücklich erinnert er sich auch an zwei weitere Situationen aus U.s Zeit in Dortmund. Zum einen habe U.s Zimmer immer wie eine Katastrophe ausgesehen. B. interpretiert diese Unordnung so, dass U. unfähig gewesen sei, für sich selbst zu sorgen oder sich etwas Gutes zu tun. Ähnlich verhalte es sich mit U.s Rauchgewohnheiten. U. habe ihm demonstriert, wie man eine „Kawumm“ [eine Vorrichtung, um mehr Wirkung zu erzielen] rauche. Trotz einer schweren Lungenkrankheit habe U. besonders intensiven schwarzen Tabak konsumiert, „bis zum Umfallen“. Für B. spreche das für eine „maximale Suchtverlagerung“ des ehemals Heroin-abhängigen Angeklagten.
Paul-Ludwig U. erkannte die Notwendigkeit einer Therapie an
Über die Anfänge auf Oberarzt B.s Station befragt, schildert B., dass U. einen Leidensdruck gezeigt und selbst erkannt habe, dass er etwas ändern müsse, weil er sonst nicht mehr lange lebe. In den ersten Wochen habe U. die Beziehung zum Personal getestet, um herauszufinden, ob er eine realistische Chance bekomme oder nur ruhiggestellt werden solle. Dass er psychiatrisch behandelt werden musste, sei für U. klar gewesen. Er habe sich am Anfang und am Ende jedoch gefragt, ob er dafür in den Maßregelvollzug müsse. Nach einer Eingewöhnungsphase habe sich ein gutes therapeutisches Verhältnis entwickelt. U. habe seine Diagnose angenommen und beispielsweise ein Buch mit Selbstschilderungen von Borderline-Patient*innen gelesen. Darin habe er sich wiedererkannt und Einsicht gezeigt. Der VR verweist auf Berichte des Zeugen an die Staatsanwaltschaft, aus denen ein vorsichtig optimistischer Eindruck beim Therapieverlauf hervorgehe.
Was unverändert blieb, war der Narzissmus
Der VR befragt den Zeugen nach dessen Diagnose und Einschätzung zu Paul-Ludwig U. aus der Zeit bei ihm. Oberarzt Klaus B. erläutert, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung die am tiefsten gestörte Struktur in der Person des Patienten sei. Insgesamt habe U. ein „bunt geschecktes“ Muster an verschiedenen Störungen aufgewiesen, mit narzisstischen, dissozialen und histrionischen Anteilen. Im Laufe der Zeit habe die emotionale Instabilität abgenommen, die Impulskontrolle habe sich stabilisiert. Seine dissozialen Anteile habe Paul-Ludwig U. besser steuern können. Geblieben seien die histrionische Beziehungsgestaltung sowie der Drang nach Aufmerksamkeit. Die narzisstische Störung habe sich in der Dortmunder Zeit nicht abgeschwächt. Es habe immer etwas Großartiges passieren müssen, selbst wenn U. das nicht selbst herbeiführen konnte. Wenn eine narzisstische Kränkung auf die Realität treffe, bestehe die Gefahr eines Beziehungsabbruchs oder von Gewalt. Wenn seine narzisstischen Bedürfnisse nicht befriedigt worden seien, dann habe sich U. leer gefühlt. Dies habe sich dann in der „Ödnis“ seines Zimmers gezeigt. Man habe versucht, U. Fähigkeiten gegen die Stimmungsschwankungen an die Hand zu geben. Dabei habe es kleinschrittige Erfolge gegeben. Paul-Ludwig U. habe sehr darauf geachtet, von seinen Mitpatienten geachtet zu werden. In der Gruppe habe er eine besondere Rolle eingenommen. U. habe es nicht gemocht, ausgebremst zu werden. Ideen habe er immer versucht umzusetzen, ohne weiter darüber nachzudenken.
Der VR fragt den Zeugen B., ob er der Aussage einer anderen Zeugin zustimme, U. brauche eine Bühne. „Wenn die Bühne ein Gegenüber ist, dann ja“, pflichtet Klaus B. bei. Die Feststellung des Gutachters W., Paul-Ludwig U. verfüge über eine „schier unerschütterliche Überzeugung von eigener Einzigartigkeit“, kann er dagegen nicht teilen. U. habe zwar ein Bedürfnis nach Grandiosität gehabt, „aber unerschütterlich war da nichts mehr“. U. sei in der Lage gewesen, dieses Verhalten von einer psychopathologischen Metaebene zu betrachten.
Paul-Ludwig U. neigt zu Ausschmückungen
In einem Bericht des Oberarztes werde Paul-Ludwig U., so der VR, als jemand dargestellt, der viel spreche. Der VR bittet den Zeugen um eine Konkretisierung. Klaus B. erklärt, Paul-Ludwig U. sei sehr an Kontakt mit anderen Menschen interessiert. Dabei bemühe er sich, Kontakt auf Augenhöhe zu halten, auch mit Autoritäten, mit denen er sich auf einer Stufe sehe. So werte er sein eigenes Selbstbild auf. In den Telefonaten, die U. mit ihm geführt habe, habe dies vermutlich auch eine Rolle gespielt. U. könne gut die Reaktionen auf sich bei seinem Gegenüber ablesen und beispielsweise seinen Kommunikationsdrang begrenzen.
Auf die Frage des VR, ob der Zeuge den Eindruck gewonnen habe, dass U. in seinen Ausführungen lüge, gibt B. an, dass dies zwar der Fall sein könnte; U. erfinde jedoch selten etwas. Vielmehr schmücke er die Dinge aus – vor allem dann, wenn er das Bedürfnis habe, sich selbst aufzuwerten. Eine andere Zeugenaussage, dass U.s Erzählungen „immer dramatisch“ und „immer aufgebauscht“ seien, würde der Zeuge B. mit Abstrichen unterschreiben. Das sei nicht immer, aber häufig der Fall. Klaus B. bestätigt auch, dass U. über manipulative Züge verfüge. Er könne jemandem schmeicheln, um seine Ziele zu erreichen. Er (B.) habe aber nicht beobachtet, dass U. sich durch Einschüchterung oder Bedrohung Vorteile zu verschaffen versucht habe.
Therapie-Engagement gesunken
Ende 2011 habe Paul-Ludwig U. bei einem Fußballspiel einem Mithäftling einen Faustschlag verpasst. Die Konsequenzen [zeitweise Fußballverbot, zum Ersatz Tischtennis] habe U. nicht nachvollziehen können. Es sei eine schwierige Situation entstanden, bei der sich Spaltungstendenzen gezeigt hätten. Im Januar 2012 sei U.s Therapie-Engagement gesunken. Dies könne aber auch damit zu tun haben, dass am 24. Januar 2012 die nächste Begutachtung durch Dr. K. angestanden habe. Viele Patienten nähmen eine Auszeit, um sich darauf konzentrieren zu können. Ab Februar habe U. die Therapie fortgesetzt. Der Vorfall mit dem Faustschlag sei eine Ausnahme gewesen. U.s Entgleisungen im Dortmunder Maßregelvollzug hätten sich eher verbal gezeigt. U. sei aufbrausend, laut und massiv abwertend geworden.
In einem Bericht des Oberarztes wurde laut VR festgehalten, dass U. Probleme habe, sich in die Gruppe zu integrieren. Er sitze oft außerhalb des Stuhlkreises und habe sich von der Gruppe abgesetzt. Der Zeuge vermutet, dass U. sich von den Pädophilen in der Gruppe abgrenzen wollte. Anfang 2013 habe sich U. wegen der Pädophilen aus der Gruppentherapie verabschiedet.
Der Bruch im therapeutischen Verhältnis
Der VR hält dem Zeugen einen Auszug aus einem Bericht vom November 2012 vor. Darin heißt es, U. brauche viel Aufmerksamkeit und habe wenig Konflikttoleranz. Er vermeide eine adäquate Auseinandersetzung mit sich selbst. Insgesamt sei die Tendenz jedoch positiv. Dann jedoch verschlechterte sich die Situation offenbar: Im März 2013 seien zwei Mithäftlinge aus der Anstalt geflohen, und U. habe massive Probleme mit seinem Bezugstherapeuten Herrn D. gehabt. U. habe den WDR informiert und dort Stimmung gegen die Klinik gemacht. Er sei in alte Muster verfallen. Die psychiatrische Forensik habe diese Situation als gefährlich eingestuft, weil U. in solchen Situationen früher bereits Geiseln genommen habe. Am 14. März sei U. dann in den Maßregelvollzug nach Schloss Haldem verlegt worden. Beide Seiten hätten eine weitere Zusammenarbeit nicht als zielführend angesehen.
Im Gutachten von Prof. Kröber gab U. an, mit dem WDR gesprochen zu haben, weil bei einer der beiden Fluchten jemand mit einem Messer verletzt worden sei. U. sagte Kröber, er habe die Öffentlichkeit über die Gefahr informieren wollen und deshalb mit den Medien gedroht. Dann habe ihm die Anstalt erst eine Verlegung angedroht und ihn dann binnen innerhalb kürzester Zeit tatsächlich verlegt.
Der Zeuge B. widerspricht: Bei der Flucht habe es zwar eine Bedrohung mit einem Messer gegeben, aber keine Verletzung. Auch der zeitliche Ablauf im Gutachten Kröbers stimme nicht. U. sei nicht nach zwei Stunden, sondern über eine Woche später verlegt worden. U. habe zudem selbst wegen des schlechten Verhältnisses zu seinem Bezugstherapeuten schon vor den beiden Fluchten eine Verlegung gewünscht. Insgesamt bezeichnet der Zeuge U.s Darstellung als eine Zuspitzung: nicht grundlegend falsch, aber „akzentuiert, zugespitzt, dramatisiert“.
Paul-Ludwig U. suchte weiter den Kontakt zum Oberarzt
In der weiteren Befragung des Zeugen durch den VR geht es um die Zeit nach der Verlegung Paul-Ludwig U.s aus der psychiatrischen Forensik in Dortmund. Im Fokus der Fragen stehen insbesondere der weitere Kontakt zwischen dem Zeugen und dem Angeklagten sowie die Frage, was U. über die „Gruppe S“ und das Verfahren erzählte.
Klaus B. gibt an, dass U. auch nach seiner Verlegung den Kontakt zu ihm gesucht und ihn mehrfach angerufen habe. B. selbst habe nicht den Kontakt gesucht und sich in den Gesprächen freundlich, aber defensiv verhalten und keine Rückfragen gestellt. Er habe den Eindruck gehabt, die Telefonate täten U. gut. Wie oft U. ihn angerufen habe, könne er nicht mehr sagen. Hin und wieder habe er U. auch gesagt, dass er keine Zeit habe. Die Telefonate hätten bis in den Herbst 2021 hineingereicht. Am Telefon habe U. unter anderem mit Schadenersatzforderungen gegen die Dortmunder Einrichtung gedroht. Ihm (B.) gegenüber habe er jedoch keine Vorwürfe erhoben.
Über den Verhandlungsgegenstand dieses Verfahrens habe U. ebenfalls mit ihm gesprochen, ohne viele Details zu nennen. So kann sich der Zeuge daran erinnern, dass U. ihm gegenüber eröffnet habe, er sei an einer großen Sache dran. Ein halbes Jahr später habe er berichtet, dass er Kontakt zur Polizei aufgenommen habe. Herr B. solle „Gruppe S“ googlen. 2021 habe U. dann berichtet, dass er sich im Zeugenschutz befinde und seine Vorstrafen damit der Vergangenheit angehören würden. U. habe berichtet, dass es um Anschlagsplanungen ging, sei aber nicht konkret geworden. Weder das Treffen in Minden noch Namen habe er genannt. Auf die Frage des VR, ob U. sich als Teil einer Ermittlungsgruppe gesehen habe, antwortet B., dass U. sich unterstützt gefühlt habe. Bedroht habe am Telefon nicht geklungen, eher „gut gelaunt, nahezu euphorisch“.
Damit beendet der VR seine Befragung des Zeugen und legt eine Mittagspause ein.
Prosoziales Verhalten, aber auch Nähe zu Action und Aufregung
Nach der Mittagspause hat der Sachverständige das Fragerecht. Er fragt nach Gründen für das gute Verhältnis zwischen dem Zeugen und Angeklagten und ob U. zu weiteren Personen aus der Dortmunder Zeit Kontakt gehalten habe. B. bestätigt sein gutes Verhältnis zu U., der ihm sympathisch sei. Ihm sei nicht bekannt, dass andere Kolleg*innen Kontakt zu U. hatten. Er habe aber mitbekommen, dass U. Kontakt zu früheren Mitpatienten pflege. So habe U. B. zur suizidalen Krise eines Mitpatienten um Rat gebeten. U. habe auch ein Ehemaligentreffen organisieren wollen. Das zeige, dass er auch prosozial sein könne. An dieser Stelle erwähnt der Zeuge, dass U. ihn gerade in der Mittagspause an seinem Auto aufgesucht und gesagt habe, dass ihm dieser Teil seiner Persönlichkeit in der Zeugenaussage zu kurz gekommen sei.
Der SV fragt bezüglich des Abbruchs der therapeutischen Beziehung nach. Für ihn habe der Bruch etwas Unerwartetes, nachdem es von 2010 bis 2012 Fortschritte gegeben habe. Der Zeuge bestätigt diesen Eindruck. Es habe einen Rückfall in alte Verhaltensweisen gegeben. Er konnte sich diesen Rückfall aber auch nicht näher erklären. In den letzten Telefonaten, die sie miteinander geführt hatten, habe er U. genauso erlebt wie er ihn aus der Dortmunder Zeit gekannt habe. Er habe keine Veränderung bemerkt. Abschließend fragt der SV, ob B., der Paul-Ludwig U. grundsätzlich positiv zugewandt sei, sich in der letzten Zeit Sorgen um dessen Verstrickungen gemacht habe. Der Zeuge B. erklärt, er habe sich Gedanken gemacht. U.s Nähe zu Straftaten und extremen Gruppierungen hätten ihn besorgt. Diese Nähe zu Action und Aufregung hätten U.s Schema entsprochen.
U.s instabiles Selbstwertgefühl
Nachdem die Fragen des SV beantwortet sind, erhalten die Verteidiger*innen und Angeklagten das Fragerecht. Rechtsanwalt (RA) Stehr fragt, ob U. ein Gespür dafür habe, was andere hören wollten. Der Zeuge bestätigt, dass U. durchaus diese empathische Fähigkeit besitze. Er sei in der Lage, die Reaktion seiner Gesprächspartner*innen zu entschlüsseln und sein Verhalten anzupassen.
Werner S.‘ RAin Klein fragt nach U.s Selbstbild und ob er eine Situation konstruieren könne, um sich als Retter zu inszenieren. B. führt aus, dass U. kein konsistentes Selbstbild habe. Es changiere zwischen Ideen von Großartigkeit und einem Gefühl von „ich bin ein Nichts“. Dass er künstlich Situationen schaffe, um sich als Retter darzustellen, passe zwar zum Krankheitsbild von U., er könne sich aber nicht an eine solche Situation erinnern.
RA Picker, Verteidiger von Marcel W., bittet den Zeugen um eine Erläuterung der Aussage „Wenn er nicht in Beziehung zu anderen stand, brach er zusammen.“ Klaus B. erklärt, dass U. wegen seines instabilen Selbstwertgefühls die Anerkennung von außen kompensiere. Wenn er allein sei, könne er seine Emotionen nicht kontrollieren. Am wohlsten fühle sich U. in Gruppen, was auch durch seine Sozialisation in Heimen und Kliniken nachvollziehbar erscheine. Auf die Frage von RA Picker, ob U. das Wort „Informant“ in den letzten Telefonaten gebraucht habe, meint der Zeuge, das von ihm gehört zu haben. U. fühle sich nun unterstützt, nachdem ihm die Polizei zuerst nicht geglaubt habe.
Einige Verteidiger fühlen sich durch Zeugenaussage bestätigt
Nach der Verabschiedung des Zeugen durch den VR erhalten die Prozessbeteiligten das Wort für Stellungnahmen. Die RA Herzogenrath-Amelung, Picker und Miksch sehen sich durch die Aussage des Zeugen bestätigt. Frank H.s RA Herzogenrath-Amelung erklärt, man erkenne auch hier, dass U. sich auf seine Gesprächspartner*innen einstellen könne und zu Lüge und Übertreibung greife. Neu sei, dass U. eine Beziehung brauche, in der er sich ernstgenommen fühle. Dieses Bedürfnis habe die Polizei befriedigt, so der RA.
Der Angeklagte Marcel W. ergänzt eine Beobachtung, die er an der Hummelgautsche gemacht habe. Nachdem Paul-Ludwig U. von seiner Lebensgeschichte erzählt und ihn niemand beachtet habe, habe U. allein auf einer Bierbank gesessen und sei in sich zusammengefallen. Werner S. habe sich dann um ihn gekümmert.
Zwei Aufnahmen aus der TKÜ liefern nichts Neues
Der VR führt zwei TKÜ-Aufnahmen von Telefonaten zwischen Paul-Ludwig U. und Klaus B. ein. In der ersten Aufnahme vom 5. Dezember 2019 um 12.28 Uhr [ca. 90 Sekunden] informiert U. Herrn B. darüber, dass sich das LKA bei B. melden werde, um mit ihm zu „quatschen“. Auf B.s Frage, was er denn sagen soll, antwortet U.: „Was Sie wollen“. Er habe B. von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbunden.
Im zweiten Telefonat, dass rund 18 Minuten dauerte und am 8. November 2019 um 8.38 Uhr aufgenommen wurde, erzählt U., dass er bald ins Zeugenschutzprogramm komme. Er sei in einer rechten Gruppe, die für das Frühjahr Anschläge plane und einen Bürgerkrieg entfachen wolle. In jedem Bundesland stünden zehn Personen bereit. Die Gruppe verfüge über eine Liste mit 21.000 Namen „von der Antifa“. Er sei mittendrin und fahre einmal pro Woche zum LKA nach Stuttgart. Ohne ihn würde das LKA nichts wissen. Dort sei man über das Ausmaß geschockt. U. erklärt, er sehe sein Tun als „Wiedergutmachung“ und den Zeugenschutz als „zweite Chance“. Die Angaben über sein vorheriges Leben seien gelöscht, als hätte es ihn nie gegeben. Er verweist darauf, dass die Ermittler*innen vor der schwierigen Aufgabe stünden, nicht zu früh loszuschlagen, damit die Gruppe nicht nur für illegalen Waffenbesitz rangenommen würde. Zugleich beklagt U., dass sich die Ermittlungsbehörden nach dem NSU immer noch nicht untereinander austauschen würden und die Vernetzung nicht funktioniere. B. kommt in diesem Telefonat kaum zu Wort und verhält sich weitgehend passiv. Der Inhalt des Telefonats erinnert an ähnliche Schilderungen aus früheren TKÜ [siehe Prozesstage 23 und 25].
Damit endet dieser Prozesstag.