Am 31. März 2022 fand der 65. Hauptverhandlungstag im Prozess gegen die „Gruppe S“ statt. Befragt wurde Dr. Stefan S. (55). Er hatte 2013 bis 2016 als Facharzt für Psychiatrie und Psychologie Paul-Ludwig U. in der LWL-Maßregelvollzugsklinik Schloss Haldem in Stemwede betreut. Wie schon einige Zeugen vor ihm sollte Stefan S. Aufschluss über die Glaubwürdigkeit und Schuldfähigkeit von Paul-Ludwig U. geben. Der Zeuge zeichnete von U. ein recht normales Bild eines Häftlings im Maßregelvollzug. S. berichtete, dass U. ihn auch nach seiner Entlassung telefonisch kontaktiert und ihn auch über seine Aktivitäten in rechten Gruppen informiert habe. Am Nachmittag des 65. Prozesstags wurden die drei mitgeschnittenen Telefonate zwischen Paul-Ludwig U. und Dr. Stefan S. vom 8. November und 6. Dezember 2019 sowie vom 20. Januar 2020 in die Beweisaufnahme eingeführt. Aus ihnen ging hervor, dass Paul-Ludwig U. schon früh von einem Szenario berichtete, wie es dann am 8. Februar 2020 in Minden ablief. Außerdem betonte er die Chance eines Neuanfangs im Zeugenschutz. Am Ende des Prozesstags ging es um die Kommunikation in rechten Chat-Gruppen.
Der Vorsitzende Richter (VR) belehrt den Zeugen und erklärt, es liege eine Entbindung der Schweigepflicht zu U. vor. Dann übergibt er das Wort an S., der einleitend seinen beruflichen Werdegang zusammenfasst. Seit 1997 sei er als Arzt und seit 2004 im Maßregelvollzug von Schloss Haldem tätig, dort seit 2017 als stellvertretender Klinikleiter. Zwischen 2013 und 2016 habe er zu Paul-Ludwig U. alle sechs Wochen bei seinen Visiten Kontakt gehabt. Er erinnere sich noch an U., weil der Fall interessant gewesen sei und dieser sich bei ihm telefonisch nach seiner Entlassung gemeldet habe. Außerdem habe er sich mit U. intensiver beschäftigt, da dieser Fall „nicht ganz unkompliziert“ verlaufen sei. Er erinnere sich an eine „Entweichung“ [Fluchtversuch] von U. sowie an einige gesundheitliche Probleme. Im Verlauf der Befragung stellt sich heraus, dass Paul-Ludwig U. sogar zweimal aus dem Maßregelvollzug floh. U. selbst habe seine erste Flucht im Oktober 2013 damit begründet, so fasst es der VR aus einer Akte zusammen, dass er [beim Freigang in Bielefeld] über die Erfahrung erschrocken gewesen sei, von einem Jungen von 14 oder 15 Jahren sexuell fasziniert zu sein. Durch ein Wiedersehen mit diesem Jungen sei er in Panik gewesen und zu einem Bekannten nach Hagen gefahren.
Der VR ergänzt, U. sei am 14. März 2013 in die LWL-Klinik Schloss Haldem verlegt worden, um seine Haftbedingungen zu lockern. U. habe Kontakt zu den Medien gesucht [der WDR drehte einen Bericht über ihn], dadurch schien sein Vertrauensverhältnis zur Einrichtung erschüttert. Danach sei U., so der VR, vom 11. Oktober 2013 bis März 2014 in Rheine gewesen. Die zweite Flucht habe sich VR 2015 nach einem negativen Gutachten über U. von Dr. Michael Peters ereignet. Am 27. Juni 2015 habe U. ein Auto und die Geldbörse einer anderen Patientin gestohlen und sei aus dem Krankenhaus in Ostercappeln (Landkreis Osnabrück) geflohen. Laut VR führte das zu einem Urteil des Amtsgerichts Osnabrück mit einer Strafe von 100 Tagessätzen zu je 3 Euro.
Der Zeuge erwähnt an dieser Stelle das neue Gutachten von Prof. Kröber mit einer neuen Diagnose, und gibt an, laut LWL-Einschätzung hätten bei U. keine Unterbringungsvoraussetzungen mehr vorgelegen. Man sei nicht davon ausgegangen, dass von U. eine Gefahr ausgehe, aber habe wegen der Flucht keine günstige Sozialprognose getroffen.
U. hielt nach Entlassung Kontakt zum Zeugen und sprach auch über die „Gruppe S“
Der VR fragt nach dem Telefonkontakt, nachdem U. bereits entlassen war. Der Zeuge gibt an, zuletzt im vergangenen Jahr mit U. telefoniert zu haben. Begonnen habe der Telefonkontakt nach U.s Entlassung, ungefähr 2017. U. habe ihm erzählt, wie es im ergangen sei, dass er Kontakte zu rechten Kreisen habe und es dort Bestrebungen gebe, Straftaten zu begehen. Später habe U. ohne Details von dem Verfahren [gegen die „Gruppe S] erzählt und gesagt, dass „ich als Zeuge benannt werden könnte“. Außerdem habe er erzählt, dass er den Behörden „Informationen übergibt“ und von den Behörden unterstützt werde. Insgesamt schätzt der Zeuge die Anzahl der Telefonate auf 15 bis 20. U. habe ihn dabei ausschließlich in der Klinik angerufen. Der fortbestehende Kontakt habe ihn überrascht, da so etwas eher die Ausnahme sei.
Der Zeuge sagt, für ihn sei U. „offen“ und „kein durchschnittlicher Typ“. Dieser habe eine „hohe Sensitivität für Ungerechtigkeit“. Er habe eigene Anteile bei Konflikten benennen können. „Das fand ich schon so außergewöhnlich bei ihm“, so der Zeuge. U. sei mit der Vordiagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu ihm gekommen. Diese Diagnose habe man erst einmal ernst genommen, aber auch geprüft. „Es gab sicherlich Persönlichkeitszüge, die in diese Richtung gingen“, erklärt der Zeuge, aber sie seien nicht ausgeprägt gewesen. Laut VR wurde U. eine dissoziale Persönlichkeitsstörung attestiert. Stefan S. sagt dazu, man habe bestimmte Anteile einer solchen Störung feststellen können. U. habe eine gewisse Neigung gehabt, sich in den Vordergrund zu stellen. Das habe man als „histrionisch“ bezeichnet. Der Zeuge erklärt, U. habe den Eindruck gehabt, „wir wollen ihm nichts Böses“, und verstanden, dass man gemeinsam einen Weg aus dem Maßregelvollzug zu finden versuchte. Er habe Fortschritte gemacht. Die Persönlichkeitsstörung sei nicht so ausgeprägt gewesen, dass man U. nicht hätte rehabilitieren können.
Fluchtversuche und Ausraster: U.s Zeit in Haft nach einem negativen Gutachten
Der VR kommt auf die neue Diagnose von Dr. Peters vom Februar 2015 zurück, die bei U. eine Krise ausgelöst habe. Er gibt Auszüge aus Berichten nach diesem Gutachten wieder: U. habe ein Glas nach einer Pflegekraft geworfen, sie aber verfehlt. Als U. wegen des neuen Gutachtens der Umzug in die Einrichtung „Club 74 e.V.“ [eine soziale Einrichtung u.a. für psychisch Kranke in Minden] abgesagt worden sei, habe er gebrüllt und Dinge geworfen. Am 27. Juni 2015 sei U. aus dem Maßregelvollzug geflohen und am Tag darauf zurückgekehrt. Der Zeuge erinnert sich, man habe nach dieser Situation mit U. gesprochen und Prof. Kröber für ein neues Gutachten beauftragt, das dieser dann im Februar 2016 erstellte.
Gefragt nach Selbstschädigungstendenzen bei U. erwähnt der Zeuge das „Kawumm-Rauchen“ von Tabak durch eine Klopapierrolle, was sich U. offenbar im Gefängnis angewöhnt habe. [Dieses „Kawumm“ führte bei den Ermittlungen bereits zu Irritationen, da es irrtümlicherweise mit Sprengstoff assoziiert wurde.] Der VR fragt den Zeugen, ob er sich an politische Aussagen von U. erinnere. Der Zeuge antwortet: Nein, das sei kein Thema gewesen.
Der VR übergibt das Wort an den Sachverständigen Dr. Winckler. Dieser hakt bezüglich des Gutachtens von Dr. Peters nach. Dessen Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung liege nahe an der ursprünglich diagnostizierten narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Der Zeuge antwortet, dass daraus andere Maßnahmen resultieren würden. Das Problematische an Peters‘ Diagnose sei das Pathologische gewesen.
Im Anschluss spielt der VR drei Telefonate zwischen U. und dem Zeugen ab, die im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) aufgezeichnet wurden.
TKÜ vom 8. November 2019: Gespräch zwischen Paul-Ludwig U. und Stefan S.
Nach einer Begrüßung berichtet Paul-Ludwig U., GBA Zacharias sei involviert. Es gebe schon Verhaftungen, unter anderem eines ehemaligen BKA-Beamten. Im jedem Bundesland stünden 15 Mann bereit, und im Frühjahr seien Anschläge geplant. Er sei aufgrund seiner Biografie [mit langer Hafterfahrung] schnell in diese Kreise gekommen. Nun könne er denen [den Behörden] direkt Informationen von vor Ort liefern. Er sei in Berlin und Landau gewesen und fahre jetzt nach Hamburg. Er sei Beschuldigter als Mitglied einer terroristischen Vereinigung. Das höre sich erst einmal hart an. Bei ihm sei eine CO2-Pistole gefunden worden. Den Fall habe Zacharias „an sich gezogen“. Jemand vom BKA habe vor acht Wochen gesagt, er hoffe, dass das [die „Gruppe S] nur Maulhelden seien und dass U. wegen seiner Vorgeschichte der ideale Türöffner sei. Dann bezeichnet sich U. als „Admin für den militärischen Bereich“. [Im Gerichtssaal greifen sich mehrere der anderen Angeklagten an den Kopf.] Weiter erzählt U. über seine Gruppe: „Die haben tatsächlich die Absicht, einen Bürgerkrieg zu provozieren, um die Regierung dadurch zu stürzen.“ Das seien keine Hartz-IV-Bezieher. Er nehme das als zweite Chance wahr. „Weil Paul-Ludwig U. wird es [im Zeugenschutz mit neuer Identität] nie gegeben haben.“ Alles komme weg, auch alle Straftaten. „Wenn ich im Zeugenschutz bin, kann ich mir eine neue Identität ziehen und bin auf Null. Völlig sauber. Kann mir aussuchen, wohin ich gehe. Kann einen Beruf wählen.“ [Im Telefonat lacht U. wie ein kleines Kind.] „Kann mein Leben neu starten. Das Leben geht weiter.“ Dann gebe es auch keine Gutachten mehr. „Alles was ich habe, ist schon weg.“
U. fährt fort: „Diese ganze Sache hier hat mich erwachsen werden lassen. […] Ich bin in der Lage, sachliche Entscheidungen treffen zu können.“ Er hätte noch irgendwann abspringen können. Aber „weil ich weiß, was geplant ist, konnte ich nicht zurückgehen“. Sonst würde er sich Vorwürfe machen, wenn irgendwann im Fernsehen über Anschläge berichtet würde und er sich sagen müsste: „Ich hätte das verhindern können.“ U. fährt fort: „Im Grunde denke ich, unter dem Strich ist die Entscheidung gut.“ Er habe sich nie über seine Haftstrafen beschwert; „wer A sagt, muss auch B sagen“. Dann bilanziert U.: „Mein ganzes Leben war nur Action. Vielleicht kann ich das abstreifen.“ Damit endet das Gespräch.
Der VR bittet um Erklärungen. Marcel W.s Rechtsanwalt (RA) Picker sagt, das Gespräch erinnere an die Telefonate U. mit dessen Bewährungshelfer W. Paul-Ludwig U. zeige ein starkes Mitteilungsbedürfnis, das Gespräch sei eher ein Monolog.
RA Berthold, Verteidiger von Michael B., argumentiert, die Frage nach der Moral sei beantwortet. U. habe bereits am 8. November 2019 seinen gesamten Plan skizziert. Es solle Anschläge auf Moschee geben, um einen Bürgerkrieg auszulösen.
TKÜ vom 6. Dezember 2019: Gespräch zwischen Paul-Ludwig U. und Stefan S.
Nach der Begrüßung erzählt Paul-Ludwig U., dass er nächstes Wochenende über Minden nach Hamburg zu einem wichtigen Treffen fahre. Er sei letzten Monat für Treffen 1.900 Kilometer mit Auto und Zug unterwegs gewesen. Nach dem Treffen in Hamburg würden die [Behörden] „dann weitermachen mit dem, was sie haben.“ Er selbst hingegen könne nicht weitermachen: „Das kann ich mir gar nicht mehr leisten.“
Zu diesem recht kurzen Telefonat gibt niemand der Verfahrensbeteiligten eine Erklärung ab.
TKÜ vom 20. Januar 2020: Gespräch zwischen Paul-Ludwig U. und Stefan S.
Stefan S. fragt, ob alles gut gegangen sei. U. antwortet, dass das Treffen verschoben worden sei auf den 8. Februar in Minden. Da werde es einige Festnahmen geben. Danach sprechen die beiden über Privates.
Auch zu dieser Aufnahme gibt niemand Erklärungen ab.
Der VR entlässt den Zeugen und fragt nach Statements zu dessen Befragung. Marcel W.s RA Miksch ergreift das Wort und betont die Einschätzung des Zeugen, dass U. die Tendenz habe, sich in den Vordergrund zu stellen.
RA Hofstätter: Mandant Tony E. schrieb in den Chatgruppen nichts von Belang
Anschließend beendet der VR ein Selbstleseverfahren [es geht um Gruppen-Chats] und bittet auch hierzu um Erklärungen. RA Herzogenrath-Amelung, Verteidiger von Frank H., greift Chatnachrichten auf, in denen sich Werner S. vorstellt und schreibt, er habe gedient bei den Pionieren der Bundeswehr und vier Jahre bei den Alpini [den italienischen Gebirgsjägern]. Der RA bezeichnet das als Lüge.
RA Hofstätter verliest eine längere Stellungnahme zu den Chatgruppen. Eingangs verkündet er allgemein, sein Mandant Tony E. komme in neun der 20 Chatgruppen gar nicht vor und sei in sieben weiteren nicht aktiv gewesen. Anschließend geht der RA auf die einzelnen Chatgruppen ein und beginnt mit „Last Man Standing“. Hier habe E. nur drei Begrüßungen gepostet und sei sofort ausgetreten, als Paul-Ludwig U. ein Foto einer Waffe gepostet habe. U. habe außerdem wie aus dem Nichts „Nieder mit den Moscheen“ geschrieben. Bezüglich der Chatgruppe „Aug in Aug – Division 2016“ gibt der RA bekannt, dass sein Mandant dort fast nur Smalltalk betrieben habe. Im Chat „Division 2016 – Original“ habe E. 17 Nachrichten verschickt und darin von der Entwaffnung des Volkes geschrieben sowie seiner Vermutung, dass nach dem Halle-Attentat auch Sportschützen und Jäger entwaffnet würden. 182 Nachrichten habe E. in die Gruppe „Aufklärung“ geschickt, dort sei es aber lediglich um organisatorische Belange des „Freikorps“ gegangen. In der Gruppe „Division 2016 – Bewerber“ habe U. fast nur Begrüßungsformeln versandt. Er sei kein Administrator gewesen und habe dort keine staatsfeindliche Gesinnung ausgedrückt.
Auch RA Miksch und RAin Schwaben bewerten die Chatnachrichten ihrer Mandanten als unspektakulär
Anschließend ergreift RA Miksch das Wort und bekundet, dass sein Mandant Marcel W. in der Chatgruppe der „Wodans Erben“ keine Gewaltfantasien geäußert habe. Es sei die Rede von der „Schaffung von Sammelstellen für den Ernstfall“. Auch die Erklärung zum Hummelgautsche-Treffen höre sich nach einem Prepper-Treffen an.
RAin Schwaben gibt an, dass nur zwei Chat-Gruppen ihren Mandanten Markus K. beträfen. Er habe auf Thomas N.s Nachricht „Jetzt heißt es kämpfen, und der Michel schläft noch“ mit den Worten reagiert: „Ich leiste Widerstand nach den Spielregeln des Systems.“ U. hingegen habe auf K. wie folgt geantwortet: In Minden gehe es um etwas anderes, das werde er schon noch sehen. Mit dieser Erklärung endet der 65. Prozesstag.