Prozesstag 56: Bundesanwaltschaft konfrontiert Marcel W. mit Widersprüchen in seinen Aussage

Am 27. Januar 2022, dem 56. Prozesstag im „Gruppe S“-Prozess, musste sich Marcel W. Rückfragen zu seinen Aussagen vor Gericht stellen. Mehrere Mitglieder des Senats hakten nach, der Vorsitzende Richter äußerte offen seine Zweifel an W.s Darstellung der Gruppe. Auffallend aktiv war auch Oberstaatsanwältin Bellay. Anders als im bisherigen Prozessverlauf, in dem sich die Vertreterinnen des Generalbundesanwalts kaum einbrachten, zeigte Bellay Marcel W. an diesem Verhandlungstag mehrere Widersprüche aus seinen Aussagen auf und konfrontierte ihn mit Belegen aus Chats und anderen Beweisen bzw. Indizien, die gegen die angebliche Harmlosigkeit des Angeklagten und der „Gruppe S“ sprechen. Vieles davon konnte W. nicht auflösen.

Zu Anfang korrigiert Marcel W. seine Aussage vom Dienstag, in der er angegeben hatte, dass sein Mitangeklagter Thorsten W. Geld für einen Waffenerwerb zugesagt habe. Nun sagt Marcel W.: „Ich bin mir relativ sicher, dass er nichts geben wollte.“ Beim Rest hingegen blieb er bei seinen Aussagen: Tony E., Wolfgang W., Thomas N. und Werner S. hätten Geld geben wollen. Paul-Ludwig U. habe Geld im Namen der „Bruderschaft Deutschland“ zugesagt, dagegen habe Ulf R. nichts geben wollen. Bei Stefan K., Steffen B., Markus K. und Frank H. sei er sich nicht mehr sicher.

Befragung durch die beisitzenden Richter*innen

Richter Kemmner (RK) beginnt seine Befragung mit der Höhe der zugesagten Summen. Marcel W. gibt an, dass Werner S. 5.000 Euro zugesagt habe, Paul-Ludwig U. im Namen der „Bruderschaft“ ebenfalls. Wolfgang W. habe 2.000 Euro versprochen. An mehr könne er sich nicht mehr erinnern

Weiter fragt RK nach einem Fackelmarsch in Nürnberg, an dem Mitglieder der „Wodans Erben Germanien“ (W.E.G) beteiligt waren. [Im Februar 2019 drangen diese in eine Geflüchtetenunterkunft ein und gingen anschließend mit Fackeln zum Reichsparteitagsgelände.] Marcel W. behauptet, er habe an dieser Aktion nicht teilgenommen, Frank H. hingegen schon. W. fügt hinzu, dass ursprünglich eine andere Route geplant gewesen sei.

RK möchte Näheres zu Andi L. von den W.E.G Bayern wissen. Marcel W. bezeichnet L. als „Secretary“ der bayerischen Division und als „gemäßigt rechts“. Er erzählt von einem Vorfall in München, bei dem Antifaschist*innen Andi L.s damalige Lebensgefährtin Veronika verfolgt hätten, die ebenfalls Mitglied der W.E.G gewesen sei. Bezüglich Andi L. fügt Marcel W. noch an, dieser habe – soweit er wisse – außer zu ihm (W.) und Frank H. keinen Kontakt zu Teilnehmern des Treffens in Minden gehabt und sei auch nicht bei der Demonstration am 3. Oktober 2019 in Berlin gewesen.

Werner S.: Ein hilfsbereiter Papa seiner Truppe

L. hätte jedoch ursprünglich gemeinsam mit ihm und Frank H. nach Minden zum Treffen kommen sollen, sei jedoch wegen eines Familienunglücks verhindert gewesen. Ein im Gericht an die Wand projizierter Auszug aus der Chatgruppe der „WEG Führung Bayern“ belegt diese Reisepläne. RK fragt, ob man jemanden habe fragen müssen, bevor man weitere Personen nach Minden habe mitbringen dürfen. Marcel W. erwidert: „Ich glaube nicht.“ RK entgegnet, dass im Chat „Wenn, dann frag N.“ stehe. Er möchte wissen, was und wer damit gemeint sei. Marcel W. behauptet, das wisse er nicht, in der Gruppe gebe es keinen „N.“ [W.s Mitangeklagter Thomas N. war beim Mindener Treffen Gastgeber.]

Über das Mindener Treffen erzählt Marcel W., dass die Gewaltpläne vor allem von Paul-Ludwig U. und Werner S. ausgegangen seien. Später im Tagesverlauf habe Werner S. [bezüglich der zuvor thematisierten Pläne] jedoch gesagt, das Thema sei tot, er habe gesehen, was er habe sehen wollen. Auf die Frage des beisitzenden Richters Mangold nach einer Charakterisierung von Werner S. beschreibt Marcel W. ihn als „hilfsbereit“, er nehme Sorgen und Ängste ernst und sei insgesamt „ein Papa“.

Der Vorsitzende Richter (VR) scheint Marcel W. nicht ganz abzunehmen, was er heute und am 50. Prozesstag aussagte: Er fordert W. auf, seinen Haftbefehl noch einmal zu lesen. „Ob da nicht einiges näher an der Wahrheit ist als das, was Sie uns jetzt erzählt haben?“

„Ohne Scheiß, jeder Jude muss auf den Grill“

Die Oberstaatsanwältin (OStAin) möchte Konkreteres bezüglich einer Aussage W.s wissen, in der gesagt worden sei, er habe in seiner Jugend Vorsichtsregeln wie das Weglegen von Handys gelernt. W. berichtet ihr, er sei mit 12 Jahren in rechte Kreise geraten und dort bis zu seiner ersten Inhaftierung [im August 2005] gewesen.

In mehreren Vorhalten zeigt die OStAin vor Gericht rassistische, antisemitische, NS-verherrlichende und menschenverachtende Bilder aus dem Smartphone oder Rechner von Marcel W., um dessen Selbstdarstellung als „Patriot“ und „rechts“ zu hinterfragen. Marcel W. leugnet in den meisten Fällen nicht, dass er die Bilder kennt. Zum Teil führt er aus, dass er nicht alle Bilder habe löschen können. Bei manchen der Fotos zeigt er sich irritiert: „Ich verstehe nicht, was das mit dem Fall zu tun hat.“ Die OStAin bekundet Zweifel an Marcel W.s Aussagen am 50. Prozesstag. W. hatte beispielsweise bestritten, „alle Juden“ zu hassen, sein Zorn würde sich „nur“ gegen „Elite-Juden“ richten. Dagegen spricht eine von der OStAin zitierte Sprachnachricht: „Ohne Scheiß, jeder Jude muss auf den Grill. Ich differenziere da nicht.“ Ähnliche Beispiele finden sich auch beim Thema Muslime. Auf die Frage, was er unter „Elitejuden“ verstehe, antwortet Marcel W. mit antisemitischen Verschwörungserzählungen über die Rothschilds oder George Soros. Er räumt ein: „Ich habe mich sehr oft ekelhaft im Wort vergriffen.“

Waffen-Begeisterung und Jagd auf Linke

Es werden vor Gericht auch Bilder von Waffen gezeigt. Marcel W. gibt an, dass es sich um Softair-Waffen handle. Er habe mit seinem Schwiegervater jährlich eine Waffenmesse in München besucht. Dieser betreibe einen Waffenladen in Franken. Als Gast seines Schwiegervaters habe er in einem Schützenheim bereits geschossen.

Anschließend bezieht sich die OStAin offenbar auf die Auswertung von Marcel W.s Google-Suchbegriffen, und fragt, warum er sich für Waffen und den Kleinen Waffenschein [für eine Schreckschusswaffe] interessiert habe. Marcel W. gibt an, das habe er für seine Frau recherchiert. Er sei davon ausgegangen, selbst keinen Waffenschein zu bekommen, wäre aber „nicht abgeneigt gewesen“.

Die OStAin hält Marcel W. auch eine Chat-Nachricht vor, in der er schrieb, früher nach Demonstrationen auf die „Jagd“ gegangen zu sein. Marcel W. erklärt, dass er früher nach Demos Jagd auf Linke gemacht habe, aber 2005 zuletzt auf einer Demo gewesen sei. Wenig später gibt er an, sich über den Überfall auf den linken Leipziger Stadtteil Connewitz durch Neonazis im Januar 2016 gefreut zu haben. „War aber nicht mit dabei“, fügt er hinzu.

Marcel W. in Erklärungsnot

Weiter fragt die OStAin Marcel W. nach dem Mitangeklagten Frank H., dem ehemaligen Präsidenten der W.E.G-Division Bayern. Marcel W. habe Frank H. als friedliebend dargestellt. Dabei habe dieser in einem Chat selbst bekundet, auf einer Gefährderliste [vermutlich der Polizei] zu stehen. Marcel W. entgegnet, sowohl Frank H. als auch er selbst seien „privat ganz anders“. OStAin Bellay argumentiert dagegen, dass die Chats schließlich auch „privat“ seien. Trotz kritischer Nachfragen beharrt Marcel W. darauf, dass sich der „Heimat“-Chat verselbstständigt habe und ursprünglich ein Prepper-Chat gewesen sei. Es sei viel um Verteidigung gegangen, und dazu gehöre in seinen Augen auch das Preppen. Konfrontiert mit rassistischen und gewaltverherrlichenden Aussagen im „Heimat“-Chat, erwidert Marcel W., dass man „nicht alles ernst nehmen“ müsse. Er räumt aber ein: „Klar ist das ekelhaft.“ Die Mitglieder seien „nur Leute, die Angst um Zukunft haben“. Die OStAin hält dem ein Zitat von Thomas N. entgegen: „Diese Ziegenficker müssen eliminiert werden.“ Marcel W. wiegelt ab, das sei N.s Meinung, und er sei kein Moralapostel.

Nun greift die OStAin W.s Aussagen über die W.E.G auf. Sie widerlegt W.s Behauptung, innerhalb der W.E.G seien alle gleichberechtigt gewesen, mit Zitaten, die eine klare Hierarchie aufzeigen. Hier verwickelt sich Marcel W. in Widersprüche. Er sagt aus, dass er, Frank H. und Thomas L. andere Personen hätten rauswerfen können. Außerdem zitiert die OStAin eine Anweisung aus dem W.E.G-Chat, die zur Vorsicht mahnt. Marcel W. sagt, damit sei gemeint gewesen: „Man kann privat Hitlerbildchen schicken, aber nicht im Chat.“

Worum sollte es in Minden gehen?

Die OStAin zitiert Pläne für Rache-Aktionen in Zusammenhang mit den W.E.G. Marcel W. führt aus, dass es Ärger mit Ex-W.E.G-Mitgliedern in Sachsen-Anhalt gegeben habe. Die hätten geplant, Streife zu gehen und „Leute wegzuklatschen“ sowie nach ihren Austritt oder Ausschluss die W.E.G-T-Shirts nicht zurückgegeben. Er habe hinfahren und die Leute bestrafen wollen. In einem zweiten Fall sei es um den Chef der W.E.G Sachsen gegangen. Der habe beispielsweise Leute beklaut.

Zum Schluss des Prozesstages geht die OStAin auf das Treffen in Minden am 8. Februar 2020 ein und konfrontiert Marcel W. mit Aussagen und Einlassungen von Mitangeklagten. Steffen B. und Stefan K. hätten angegeben, Frank H. habe sich hervorgetan und sich als „offensiv“ ausgegeben. Marcel W. dagegen habe angegeben, sich daran nicht erinnern zu können. Sie weist W. auch darauf hin, dass er in seiner ersten Einlassung vor dem Ermittlungsrichter seinen Mitangeklagten Paul-Ludwig U. nicht erwähnt habe. W. erklärt das damit, dass er Angst um seine Familie gehabt habe; er halte U. für einen „Psychopathen“.

Die OStAin will klären, wie sich Marcel W. das Mindener Treffen vorstellte. Von welchem Ziel ging er aus? Dazu trägt die OStAin verschiedene Angaben aus W.s Aussagen zusammen. Einmal behauptete W., er habe erwartet, dass Angriffe auf die Antifa („Antifa-Kloppereien“) geplant würden. Das bestätigt Marcel W.: „Mit Fäusten, wie in meiner Jugend.“ Die OStAin ergänzt eine andere Aussage W.s, dass Minden einen Konflikt zwischen rechten Gruppen klären sollte. Bei der Haftprüfung habe er zudem gesagt, er habe gedacht, es würde ums Preppen gehen. Die OStAin hinterfragt, warum Frank H. und Marcel W. für solche Themen bereit gewesen seien, Hunderte Kilometer zu fahren, statt einen Delegierten zu entsenden. Marcel W. gibt an, dass die W.E.G-Landesverbände Rheinland-Pfalz und NRW noch zu neu gewesen wären, um sie nach Minden zu schicken.

Wer waren die Aggressoren von Minden?

Auch W.s angeführte Verweigerung einer Waffenbestellung hält die OStAin für unlogisch. Er habe diese Weigerung mit einer Ablehnung dessen, was mit den Waffen geplant gewesen sei, begründet. Die OStAin setzt das in den Kontext von W.s Behauptung, er habe Minden als Prepper-Treffen verstanden. In ihren Augen passt das nicht zusammen.

Ebenfalls für unklar hält die OStAin Paul-Ludwig U.s Rolle in Minden. Markus K. habe gesagt, dass sich dort Tony E. und Werner S. besonders hervorgetan hätten; U. habe er nicht als exponiert erwähnt. W., der Werner S. und Paul-Ludwig U. als Anstachler beschrieb, erwidert, ihm sei Tony E. nicht als besonders aggressiv aufgefallen.

Die OStAin fragt nach W.s Einwand zu den Anschlagsplänen, man würde noch zwei Jahre brauchen. Marcel W. will das darauf bezogen wissen, dass er darauf gehofft habe, dass sich bis dahin das Migrations„problem“ durch Grenzschließungen erledigt habe – und damit auch die diskutierten Pläne. [In einer früheren Aussage hatte er die Zeitangabe zwei Jahre mit der vermuteten Restlebenszeit des gesundheitlich angeschlagenen U. begründet. Wenn dieser tot sei, hätten sich die Pläne erledigt.]

Damit endet die Befragung durch die OStAin. Der VR fragt nach der zu erwartenden Länge der Fragen durch die RA*innen. Die meisten geben eine Viertelstunde an, einige wollen W. keine Fragen stellen. Der VR beschließt, den Dienstag dafür freizuhalten und für Donnerstag eine Beamtin auf Abruf zu laden. Am 17. Februar sei dann ein verdeckter Ermittler geladen.

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