Prozesstag 50: Die Ausreden des Neonazis Marcel W.

Der 50. Prozesstag am 14. Dezember 2021 dauerte inklusive einer vormittäglichen 40-minütigen Pause nur zwei Stunden und 20 Minuten und wurde nach der Mittagspause nicht fortgesetzt, weil es dem Angeklagten Steffen B. gesundheitlich nicht gut ging und der Vorsitzende Richter (VR) sicherheitshalber notärztliche Hilfe anforderte. B. wurde zur Untersuchung in ein Krankenhaus gebracht. Vor dem Abbruch wurde der Angeklagte Marcel W. befragt, der sich – nachdem er bereits zuvor bei einem Haftprüfungstermin im August zu seiner Person (siehe Prozesstag 35) und am 49. Prozesstag zur Sache ausgesagt hatte – nun den Fragen des VR stellte.

Zunächst klärt der VR den aussagebereiten Angeklagten über seine Rechte und über das anstehende Prozedere auf. Danach geht es um einige Unklarheiten zu W.s Vorstrafen bzw. zu seiner ersten Haftstrafe. Aus der Klärung ergibt sich, dass W. am 2. Juni 2003 vom Amtsgericht Pfaffenhofen zu einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, weil er alkoholisiert zwei Passanten angegriffen hatte. Danach erhielt er mehrere Strafbefehle wegen Diebstahl-Delikten. Im Mai 2005 wurde er zu einer weiteren Freiheitsstrafe verurteilt, weil er jemandem mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte, sodass er letztlich am 2. August 2005 eine Haftstrafe in der JVA Aichach anzutreten hatte. Von dort wurde er später nach Ingolstadt verlegt und nach einem Beschluss des Landgerichts Ingolstadt am 11. Mai 2006 entlassen. Er sei vor seiner aktuellen Inhaftierung nur einmal in Haft gewesen, so W. auf Frage des VR. Seit damals habe er auch keine Fahrerlaubnis mehr. [Was ihn nicht daran hinderte, dennoch zu fahren und sich dabei erwischen zu lassen.]

Im Weiteren interessiert sich der VR für W.s Spitznamen („Matze, schon immer“), für das Smartphone, das er zuletzt benutzt habe, und für zwei Handynummern, von denen W.s Angaben zufolge er die eine selbst (seit „einem Jahr, davor eine andere“) und die andere sein Sohn nutze. Bei Telegram sei er als „Matze Wodans“ unterwegs gewesen, anfangs als „Matze“, bei Facebook als „Matze W.“ (privat) und „Matze Wodans“ (W.E.G). „Matze Wodansohn“ sei nicht sein Profil.

„Bei mir ist die Zeit der Gewalt vorbei“

Der VR bittet den Angeklagten, seine politische Einstellung zu beschreiben. Seine Antwort: „Rechts, aber nicht wie in Anklageschrift geschrieben rechtsextrem. Mit Glauben an die alte Religion.“ Er habe sich auch mal als „sozialnational“ bezeichnet, „aber nicht im historischen Sinne“, der Nationalsozialismus sei damit nicht gemeint gewesen. Gemeint gewesen sei, dass erst einmal „wir“ dran seien, bevor etwas „in die Welt verschenkt“ werde.

Der VR möchte wissen, wie W. „rechts“ und „links“ definiere. W. antwortet zu „rechts“:

  • „Heutzutage ist man ja schon rechts, wenn man mal seine Meinung sagt, z.B. kritisch über Ausländer spricht. Ich bin nicht für alle Ausländer, aber auch nicht gegen alle.“
  • „Wenn man eine unangepasste Meinung zeigt.“

Und zu „links“:

  • „Absolut deutschfeindlich, systemfeindlich.“
  • „Kein Respekt vor der Polizei. Werfen Molotow-Cocktails auf die Polizei.“
  • „Gegen den Rechtsstaat zu sein.“

Hierzu fällt W. eine Anekdote ein: Er sei 2005 auf einer Demo gewesen. Da hätten Linke „Bomber Harris: komm‘ wieder“-Parolen gerufen. „Unterirdisch!“ – das „normale, soziale Links“ [er meint offenbar die SPD] gebe es gar nicht mehr, von denen komme ja nichts mehr. Der VR hakt nach, welche Parteien W. klar als links und welche klar als rechts einordnen würde. W. benennt die Linkspartei als „klar links“, die unterstütze auch nachweislich die Antifa. Rechts gebe es aktuell nichts „Amtierendes“ [möglicherweise ein Hörfehler der Protokollantin]. Der VR möchte wissen, was W. damit meine, wenn er sage, er sei nicht rechtsextrem. W. antwortet: „Bei mir ist die Zeit der Gewalt vorbei.“

Marcel W., der einsichtige Aussteiger?

Der VR hakt bezüglich NS-Bezügen nach. Das Amtsgericht Pfaffenhofen habe in seinem Urteil geschrieben: „Der Angeklagte gab an, früher in nationalsozialistischen Kreisen unterwegs gewesen zu sein.“ W. lenkt ein. Ja, das sei 2003 auch so gewesen, danach aber nicht mehr. Er sei im Alter von 14 oder 15 aktiv in die Szene eingestiegen und mit 20 oder 21 Jahren wieder raus. „Der Zusammenhalt“, „das füreinander da sein“ und „das Familiäre“ hätten ihn positiv angesprochen. Ausgestiegen sei er, weil er älter geworden sei, eine Beziehung gehabt habe und dann auch ein Kind. Er sei „mit der Sache“ gewachsen. Man lerne „Ausländer“ kennen und komme mit ihnen ins Gespräch, zum Beispiel auf der Arbeit. Die hätten dieselben Probleme wie er selbst. „Sie leben genau wie ich, werden gar nicht so sehr bevorzugt. Es gibt solche und solche. Man reift. Es war nicht mehr alles gut oder schlecht, es gab auch was in der Mitte.“

„Blood & Honour“-Gründer als Namensgeber für Sohn des Angeklagten

Die Frage des VR, ob für W. der Unterschied zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“ darin bestehe, ob Gewalt angewendet werde oder nicht, bejaht der Zeuge. Er würde sich als „deutschtreu“ bezeichnen, so W. Der VR möchte mehr über W.s politischen Werdegang in extrem rechten Milieus wissen. Wo er da unterwegs gewesen sei. W. habe im „Heimat“-Chat von seiner „Glatzenzeit“ in Sachsen und Berlin-Brandenburg gesprochen. Diese habe ihn ebenso geprägt wie seine Erziehung. W. legt auf Frage des VR Wert darauf, festzustellen, dass er nie Strukturen wie „Blood & Honour“ oder den „Hammerskins“ angehört habe. Seine „Skinheadzeit“ habe er in Berlin-Brandenburg, Sachsen und anfangs auch in Bayern gehabt. Während seiner ersten Inhaftierung sei sie zu Ende gegangen. W. betont noch einmal, seitdem nicht mehr gewalttätig geworden zu sein. Er bleibe aber „meinungstreu“.

Wieso sein Sohn den Vornamen Ian tragen würde, möchte der VR wissen. „Großteils hat mir der Namen gefallen“, so W. Und zu einem kleineren Teil „nach dem Sänger“. [Der verstorbene „Skrewdriver“-Frontmann Ian Stuart Donaldson gilt als Gründer von „Blood & Honour“]. Die Musik habe ihm gefallen: „Habe nicht verstanden, was er gesungen hat.“

Sein „Umdenken“ habe in der Haft 2005 stattgefunden, betont W. noch einmal: Das sei „ein Prozess“ gewesen, zuvor sei er ein „absoluter NPD-Fanatiker“ gewesen. 2015 habe ein Einschnitt stattgefunden, er sei wieder politischer und misstrauischer gegen Menschen und Politik geworden. Er habe Angst vor der Zukunft gehabt, vor zunehmender Gewalt („Was in Europa abgeht, was in Frankreich abgeht. Die Terroranschläge. Die internationalen Muskelspiele zwischen Russland, USA und Europa“). Er habe Angst, dass in Europa wieder ein Krieg ausbrechen könnte. Gewalt lehne er ab, es habe also keine „Annäherung an den alten W.“ (Zitat VR) gegeben.

Auffälliges Interesse für die Wehrmacht

Der VR lässt beim Thema NS nicht locker: „Sie beschäftigen sich mit der Zeit des Dritten Reiches? Was hat Sie konkret interessiert?“ W. antwortet, dass ihn nach wie vor die Wehrmacht interessiere. Der VR präsentiert nun Asservate, die in W.s Wohnung beschlagnahmt wurden, u.a. ein Buch mit dem Titel „Der große deutsche Feldzug gegen Polen“. W. dazu: „Da ging es um die Wehrmacht.“ Das Hitler-Bild im Buch habe er noch gar nicht gesehen, zumal er das Buch erst kurz vor der Razzia erworben habe. Zudem wird ein von W. handgemaltes Bild eines Wehrmachtssoldaten vor einer Hakenkreuzflagge, unterschrieben mit „Matze, 05.11.05“ (W.: „Ich habe in Haft Malen gelernt.“) und ein Mobilisierungsflyer „8. Mai 1945 – Tag der deutschen Trauer“ der „Nationalen Sozialisten Leipzig“ für eine Demo in Delitzsch gezeigt. W. spricht vom „Tag der Trauer“: Es werde „nie über das Elend“ und das „Leid der Zivilbevölkerung“ („Mord, Vergewaltigung…“) gesprochen. Sein Opa sei „als Hitlerjunge bei der Verteidigung Dresdens dabei gewesen.“ Zuletzt zeigt der VR einen Aufkleber mit der Aufschrift „Zerschlagt das System … und werdet aktiv“. Dieser habe einer Bestellung beigelegen, so W.

Angeklagter unterscheidet zwischen mehr und weniger entwickelten „Rassen“ und beschreibt sich als „zum Teil“ antisemitisch

Der VR ist noch lange nicht am Ende seiner Fragen zum Thema NS angelangt. Er hält aus einer polizeilichen Zeugenaussage des „Wodans Erben Germanien“-Aktivisten Andi W. [der ebenfalls zum Treffen in Minden eingeladen war, aber nicht teilnahm] vom März 2020 vor. Marcel W. habe vor dem OLG beschrieben, dass sein Blick auf die Welt im Lauf der letzten Jahre differenzierter geworden sei. Andy W. habe aber ausgesagt, dass Marcel W. von „Fremdrassigen“ gesprochen habe. Und: „Das ist kein Volk, das ist Abschaum.“ Andi W. habe „den Matze immer als extrem“ wahrgenommen. W. würde es auch nicht dulden, wenn sein Sohn keine Deutsche als Freundin hätte, und häufig das „Raus mit die Viecher“-Zitat [von einer Rassistin in einer SternTV-Doku] verwendet. Marcel W. erwidert, dass es eben auch „die andere Seite“ gebe. Er habe damit die „Vergewaltiger“ gemeint. Mit „Fremdrassige“ habe er Angehörige einer anderen „Rasse“ gemeint. Es gebe seiner Meinung nach mehr oder weniger entwickelte „Rassen“. „Köpfe abhacken“ sei beispielsweise „für Europäer unvorstellbar“. Der VR spricht an dieser Stelle die Shoah an. W. erwidert, dass das Vergangenheit sei.

Der VR fragt W., ob er „ausländerfeindlich“ und antisemitisch/judenfeindlich sei. Bei beidem antwortet W. mit „zum Teil ja“. Seine Ablehnung von Juden begründet er damit, dass diese „einflussreich“ seien und im Hintergrund die Weltfinanzen steuern würden. Er spricht von einer „Finanzelite“, die an „allem verdienen will“. Als Beispiel nennt er „Elektroautos“. Es gehe immer um Geld.

Antisemitische Gewaltfantasien im Familienchat

Der VR zitiert aus dem WhatsApp-Chat „Familiengruppe“, in der am 28. Januar 2019 eine Frau eine Sprachnachricht postete, in der davon die Rede ist, dass „die dreckigen Muslime und Juden vergast gehören“. W. hatte mit „Yeah, ich bin dabei“ geantwortet. An anderer Stelle, so der VR, habe Marcel W., geäußert (wird eingespielt): „[…] Mit geht es um die Sache, nur um die Sache. Um Vaterland und Familie. Mir geht es um meine Familie. Bin Nationalsozialist, was soll ich sagen. Bin treuer, rothaariger Asen-Nationalsozialist.“ [Asen sind Götter der nordischen Mythologie.] In der Telegram-Gruppe „Heimat“ soll Marcel W. am 3. Januar 2020 geschrieben haben: „Wenn der Jude weg ist, wird Frieden sein. […] Also muss alles Zion jagen.“ Zu all diesen Belegen für seine NS-Nähe hat Marcel W. nicht wirklich etwas zu sagen, er weicht aus oder wiederholt bereits Gesagtes.

Der VR spricht die „Diskrepanz zwischen dem, was Sie sagen und dem, was wir lesen und hören von Ihnen“ an. Marcel W. eiert herum. Das seien private Gespräche gewesen, die falsch verstanden werden könnten. Mit „jagen“ sei „recherchieren, finden und aufdecken“ gemeint gewesen, „nicht Mord und Totschlag“. Er käme eh nicht an die Leute ran. Es sei schwierig, das zu erklären, es sei schon so lange her. Das sei aus einer Laune heraus entstanden. Man müsse da nicht das Schlimmste reininterpretieren. Der VR widerspricht, dass er das wörtlich nehme und nicht interpretiere. Es folgen hier nicht näher benannte weitere Beispiele für Rassismus, Antisemitismus, NS- und Holocaust-Verherrlichung sowie Gewaltfantasien.

„Krass, das habe ich gesagt?“

Marcel W. versucht seine Äußerungen („Krass, habe ich das gesagt?“) dadurch abzumildern, dass er vielleicht sauer gewesen sei und „Luft rausgelassen“ habe: „Lieber meckern, bevor ich die Wut nach draußen trage. Auch wenn es unter jeder Gürtellinie ist.“ All das heiße aber nicht, dass er das auch umsetzen würde. Der VR hält einen weiteren Chat vor, in dem W. davon gesprochen habe, dass man „gegen Kirche, Islam und Judentum vorgehen“ müsse, damit der „wahre Glaube“ wieder greifen könne. Der VR möchte wissen, was mit „wahrer Glaube“ gemeint sei. W. erklärt, das sei die nordische Mythologie. Dieser Glaube sei schon vorher dagewesen. „Islam, Judentum und Kirchentum“ seien alles dasselbe. Er erwähnt auch den Kindesmissbrauch in der Katholischen Kirche.

Der VR spricht ein weiteres Asservat an, ein Word-Dokument, gefunden auf einer externen Festplatte. W. kann sich daran nicht mehr erinnern. Das Dokument „Gedanken“ ist eine Art Aufruf „an die noch schlafenden Gutmenschen und Aufgewachten“: „Jetzt 2015 ist es so weit. Man zwingt uns in einen Rassenkrieg!!!!“ Man müsse „Familien und Frauen schützen“ und sich „JETZT wehren“: „Volk, steh auf, der Sturm bricht los. Ich selbst für mich weiß nicht, wie weit ich gehen würde.“ Der VR verkündet eine 40-minütige Pause. Anschließend thematisiert die Verteidigung des Angeklagten Steffen B., dass ihr Mandant über Schmerzen im linken Arm und Bein klage, möglicherweise mit koronalem Hintergrund. Der VR verkündet, zur Überprüfung sicherheitshalber den Notarzt zu verständigen, und unterbricht die Sitzung für zweieinhalb Stunden bis 14 Uhr. Um 14 Uhr wird die Sitzung nicht wieder eröffnet, weil die Untersuchung von Steffen B. im Krankenhaus andauert. Es sei aber wahrscheinlich nichts Ernstes, so der VR. Er sei zuversichtlich, dass es am übernächsten Tag weitergehen könne.

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