Am 30. November 2021 fand der 46. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ statt. Befragt wurde Prof. Kröber, ein früherer Gutachter des Angeklagten Paul-Ludwig U. Kröbers Gutachten trug entscheidend zu U.s Haftentlassung 2017 bei. Das Gutachten steht im Widerspruch zu vorherigen Gutachten. Kröber kam zu dem Ergebnis, dass bei U. keine pathologischen Befunde oder eine Persönlichkeitsstörung vorliegen. U. sei weder Borderliner oder narzisstisch noch auffällig aufmerksamkeitserheischend. Problematisch sei bei U. nicht eine Krankheit, sondern sein Aufwachsen in dissozialen Verhältnissen gewesen.
Der Medienandrang am 46. Prozesstag gegen die „Gruppe S.“ am 30.11.2021 ist größer als sonst. Hintergrund dessen ist der heutige Zeuge, Prof. Hans-Ludwig Kröber, der nicht nur der letzte Gutachter des Angeklagten und Hauptbelastungszeugen Paul-Ludwig U. ist, sondern auch darüber hinaus in anderen Verfahren mit großem Medieninteresse als Gutachter tätig war [siehe hierzu u.a. den Wikipedia-Beitrag zu seiner Person]. Prof. Kröbers Prognosegutachten führte 2017 zur Entlassung von Paul-Ludwig U. nach über 21 Jahren Haft und Maßregelvollzug.
Der Vorsitzende Richter belehrt den 70-jährigen Zeugen und stellt ihn vor. Kröber ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenarzt und Hochschullehrer. Der VR geht kurz auf den Werdegang des Zeugen ein. Sein Weg führte ihn demnach nach seinem Studium in Münster und seiner Facharztausbildung in Bethel an die Unikliniken Heidelberg und Hamburg, dann zu einer Professur an der FU Berlin und schließlich zur Charité in Berlin. Heute ist er freiberuflich als forensischer Gutachter tätig. Prof. Kröber ist Mitherausgeber des „Handbuchs der Forensischen Psychiatrie“ und hat inzwischen seinen Tätigkeitsschwerpunkt von Schuldfähigkeitsgutachten auf Prognosegutachten verlagert.
Die Verschiebung seines Tätigkeitsschwerpunktes erklärt der Zeuge damit, dass man bei Prognosegutachten effizienter arbeiten könne und nicht so lange Zeit in Gerichtsprozessen verbringen müsse. Die Arbeit biete größere Freiheitsgrade, und man arbeite auf Basis gesicherter Tatbestände. Seine Auftraggeber seien in der Regel Gerichte. Er erstelle aktuell 30 bis 40 Prognosegutachten pro Jahr. Der zeitliche Aufwand pro Gutachten betrage im Schnitt eine Woche, inklusive der Gespräche mit den Probanden. Am meisten Zeit beanspruche hierbei das Aktenstudium, um sich zur Vorgeschichte kundig zu machen.
Der Zeuge kritisiert „weitergeschleppte“ Gutachten
Der VR befragt den Zeugen nach der Rolle von Vorgutachten. Kröber antwortet, seiner Auffassung nach würden die meisten Gutachten nur das bestätigen, was vorher schon erhoben worden sei. Davon hält der Zeuge wenig. Auf die Frage des VR, wo er als Psychiater hinschaue, wenn er so viele Akten und Diagnosen vorliegen habe, erklärt Kröber, dass er so erzogen worden sei, erst einmal nichts zu glauben, sondern sich zunächst ein eigenes Bild zu machen. In die Begutachtungssituation gehe er offen hinein und versuche, alles aufzusaugen. Der Zeuge kritisiert außerdem nach einer Frage des VR, dass viele junge Gutachter kaum klinische Erfahrung mitbrächten und dann entlang von Kriterienrastern begutachteten. Zum Abschluss seiner Befragung antwortet der Zeuge auf eine Frage von Michael B.s Verteidiger RA Mandic: „Die ganzen Kriterienlisten in der Hand von Stümpern sind eine Gefahr.“ Zudem würden Diagnosen „oft ohne Begründung weitergeschleppt.“ Die anfangs gestellten Diagnosen werde man dann nicht mehr so einfach los.
Gegen Ende seiner Befragung will der VR von dem Zeugen wissen, ob dieser sich selbstkritisch gefragt habe, warum sein Gutachten anderen Gutachten widerspreche und ob er nicht auch Unrecht haben könnte. Der Zeuge wendet ein, irgendwann müsse eben jemand sagen, dass er zu einem anderen Ergebnis komme. Sonst käme nie jemand raus. Für ihn sei U. kein Fall von Persönlichkeitsstörung oder ein Pathologiefall gewesen.
„Geschichten, die sind amüsant“
Der VR fragt den Zeugen, ob er nach seinem Gutachten von Ende Februar 2016 bzw. nach der Anhörung im August 2016 beim Landgericht (LG) Bielefeld nochmal Kontakt zum Angeklagten U. gehabt habe. Prof. Kröber verneint. Einmal habe er einen Anruf vom Journalisten Daniel Müller (Die Zeit) erhalten. Dieser habe ihn gefragt, ob er mit dem Namen U. etwas anfangen könne. Müller habe ihm mitgeteilt, U. sei ein „Gewährsmann der Polizei“. Auf eine Nachfrage der Richterin Geist bestätigt der Zeuge, dass er über diese Rolle nicht überrascht gewesen sei, weil er sich schon gedacht habe, dass U. „dahin geht, wo die Action ist“.
An U. und dessen Exploration sowie die Anhörung vor dem LG Bielefeld kann sich der Zeuge noch recht gut erinnern. Bei U. handle es sich um einen ungewöhnlichen Probanden. Er sei unterhaltsam. Es habe Spaß gemacht, mit ihm zu reden. Er habe schon Erfahrungen mit Probanden gemacht, die ihm alles Mögliche erzählt hätten, wovon aber nichts gestimmt habe. In U.s Fall seien es „Abenteuergeschichten“ gewesen, die er tatsächlich erlebt habe, beispielsweise die Geschichte, bei der er einem Mitpatienten den Autoschlüssel geklaut und nachts eine Spritztour gemacht habe, bei der er liegen geblieben sei. Die Polizei habe er in diesem Zusammenhang als seinen Freund und Helfer dargestellt. Die „Geschichten“ seien „amüsant“, gut erzählt und hätten niemandem geschadet. Er sei, so Prof. Kröber, „positiv überrascht“ gewesen, „dass das ein lebendiger Mensch war, der Geschichten erzählte, die stimmig waren“. Er hatte „trotz der Buntheit der Geschichten […] nie das Gefühl“ gehabt, „es geht hier um Lügengeschichten, weil das von dritter Seite bestätigt wurde“.
Kröber: Will mir ein unvoreingenommenes Bild machen
Die Exploration von Paul-Ludwig U. durch den Zeugen fand am 11. Februar 2016 von 17 bis 19 Uhr und am 12. Februar von 9 bis 11 Uhr im Maßregelvollzug Schloss Haldem [Stemwede, Kreis Minden-Lübbecke/NRW] statt. Aufgrund der Intensität hätte das für sein Gutachten auch völlig ausgereicht. In der Vorbereitung habe der Zeuge das Urteil und Vorgutachten vorliegen gehabt. Ob er Befunde der Klinik erhalten habe, wisse er nicht mehr. Er habe mit dem Bezugspfleger gesprochen. An einen Briefkontakt mit U. kann er sich nicht erinnern. Es könne aber sein, dass U. versucht habe, Briefkontakt mit ihm aufzunehmen. Der VR fragt den Zeugen, mit welcher diagnostischen Vorerwartung er in das Gespräch gegangen sei. Kröber antwortet, er habe mit einem „wehleidigen Histrioniker“ gerechnet. Außerdem habe er die Sorge gehabt, dass er „mit jemanden arbeiten muss, der ständig Winkelzüge macht, der sich ständig kritisiert oder beleidigt fühlt, misstrauisch wird, im Gespräch ständig die Stimmung wechselt und einen im Atem hält“. An die Exploration sei er mit der Haltung gegangen: „Die früheren Diagnosen interessieren mich nicht sehr viel. […] Ich will rauskriegen, wie ist die aktuelle Situation. […] Wer ist dieser Mensch? Das ist meine Frage.“ Er wolle sich dabei vom Denken in Kategorien lösen, an dem viele andere, frisch ausgebildete Psychologen festhielten. Diese Haltung teile er vor allem mit älteren Gutachtern.
Kröber: U. wollte Beifall, ist aber „kein Hochstapler“
Die Stimmungslage des Probanden U. während der Exploration ist ebenfalls ein Thema. Diese schätzt der Zeuge als „unauffällig“ ein. Der VR zitiert aus dem Gutachten des Zeugen: „Es gab keine untergründige Angespanntheit oder Aggressivität. […] Ausgesprochen eloquent, […] kabarettistische Fähigkeiten, […] mitteilungsfreudig“. Der VR kommentiert, für ihn klinge das nach einer positiven Konnotation. Der Zeuge erinnert sich: U. habe Abläufe erzählt, pointiert zugespitzt mit komischen Elementen, aber nicht drastisch. Kröber erinnert sich an den Eindruck, dass U. dem Gesagten eine gute Form habe geben wollen, um Beifall für die gute Darstellung zu bekommen. Er habe sich durch die Erzählung sichtbar machen und durch diese verstanden werden wollen. Daher die positive Konnotierung im Gutachten.
RA Picker, Verteidiger von Marcel W., geht in der Fragerunde auf den Begriff der „theatralischen Fähigkeiten“ ein und möchte wissen, ob das mit Blick auf das Wort „Theater“ auch mit Schauspielerei in Verbindung gebracht werden könne. Der Zeuge findet an theatralischen Fähigkeiten nichts Negatives. Der Begriff sei neutral. Als Gutachter sei er in gewisser Weise dankbar, wenn jemand etwas plastischer darstellen könne. Was den Aspekt der Schauspielerei betrifft, so entgegnet er, dass U. nicht nach einem fremden Drehbuch spiele. Er wisse, worauf RA Picker hinauswolle, aber U. sei „kein Hochstapler“ und „kein Fantast“. Klare Erwartungen von U. an die Exploration habe er nicht wahrnehmen können, so der Zeuge. U. habe die Exploration nicht genutzt, um eine Performance abzuliefern. Einen Ausdruck von Frustration oder Täuschung habe er ebenso wenig wahrnehmen können. Das sei für ihn als Gutachter das Angenehme gewesen. Normalerweise jammere man ihm die Ohren voll. U. habe Verzögerungen und Blockaden von Entscheidungen mit einem „erstaunlichen Langmut“ beschrieben. Außerdem habe U. ein gewisses Verständnis für die Notlagen der Entscheider im Vollzug geäußert, die auch nur in einem Regelwerk eingebunden seien.
Differenzen zwischen den Gutachten
Der VR verweist auf das Gutachten von Dr. P., in dem ein Wutausbruch U.s beschrieben wird. Der VR möchte vom Zeugen wissen, wie er den Vorfall abgespeichert habe, und ob das etwas mit mangelnder Impulskontrolle zu tun habe. Kröber ordnet diese Verhaltensweise als ein seltenes Ereignis in den letzten Jahren ein. Der Anlass sei drastisch gewesen, weil U. nach einer dreieinhalbjährigen Leitstrafe aufgrund eines Gutachtens nach 20 Jahren immer noch nicht in Freiheit gekommen sei. Die in Form eines Flaschenwurfs zu Tage getretene Wut sei eine adäquate Reaktion und nicht psychiatrisch einzuschätzen. Kröber vergleicht dies mit einem Tritt von Jürgen Klinsmann gegen eine Tonne [1997 als Spieler des FC Bayern München] aus einem niedrigeren Anlass.
Der VR macht den Zeugen auf eine Veranstaltung am Prignitzsee aufmerksam, wo er zusammen mit dem Gutachter Dr. P. den Fall vorgestellt habe. Man habe sich laut P. gegenseitig nicht überzeugen können. Der Zeuge reagiert hierauf distanziert, verweist darauf, dass man den Fall nicht gemeinsam vorgestellt habe, weil er sich eher in der Moderatorenrolle gesehen habe. Er habe die Lage des Probanden U. anders eingeschätzt als P., den er schon lange kenne. Eine Diskrepanz habe es beim Thema Narzissmus gegeben. An die Diskussion könne er sich jedoch nicht erinnern. Auf eine Nachfrage von Frank H.s Verteidiger RA Herzogenrath-Amelung zu dieser Veranstaltung antwortet der Zeuge, es würde ihn wundern, wenn die Teilnehmenden in Scharen zu P. übergelaufen wären. Kröber behauptet, P. sei stolz gewesen, denselben Fall wie er begutachtet zu haben. Kröber ist jedoch froh, dass sich P. nicht als sein Schüler bezeichne. Insgesamt kenne er alle Vorgutachter U.s, wenn auch unterschiedlich intensiv. Auch zu Dr. W. habe er ein eher kühles Verhältnis.
Ist der Zeuge vom „Roadmovie“ des Angeklagten U. angetan?
Der VR hält dem Zeugen Einschätzungen der Gutachter Dr. W. und Dr. P. vor, die U. ein Streben nach „Grandiosität“ bescheinigen. Die Argumentationen betrachtet Prof. Kröber als „spekulativ“ bzw. nicht zutreffend. Auch im Bereich der Sexualität sieht der Zeuge keine ärztliche Problematik.
Der VR hält dem Zeugen vor, dass Vorgutachter bestimmte Dinge übereinstimmend beschreiben im Gegensatz zu ihm. Es wirke so, als sei der Zeuge von U.s „Roadmovie“ angetan. So schreibe Kröber in seinem Gutachten nicht von Abweichungen, sondern von „Akzentuierungen“. Der Zeuge erklärt, dass man das Geltungsbedürfnis, die Eitelkeit oder auch die Unternehmungslust als „Akzentuierungen“ betrachten könne. Diese lägen aber aber „im Bereich des Normalen“. Es seien nicht diese Merkmale, die zu U.s Problemen führten, sondern eher sein dissozialer Lebensstil: keine Struktur, kein Job, keine stabilen Kontakte.
Ein unauffälliger Selbstbehauptungswille bei U.
Das Thema „Kränkung“ spielte im Gutachten von Dr. P. eine besondere Rolle. Auch hier schätzt der Zeuge U. anders ein: Es gehöre zum normalen Repertoire, dass Menschen sich zu Unrecht behandelt fühlen und entsprechend reagieren. Die Frage sei gewesen, ob das bei U. pathologisch sei. Reagiert er mimosenhaft bei kleinster Kritik? Oder führt Zurücksetzung leicht zum Bruch mit Personen oder zu einem Misstrauen, das Gegenüber sei grundsätzlich feindlich gesonnen? Solche Momente, argumentiert der Zeuge, habe er in U.s Biografie nicht gefunden. Interessanter finde er, dass U. in Konflikte geraten sei, ohne dass es zu Brüchen gekommen sei. U. habe versucht, mit Personen konstruktive Lösungen zu finden, die ihn gekränkt hätten.
Auf die Frage des VR, ob U. übertriebene Ansprüche an seine Behandler gestellt habe, schätzt der Zeuge den Probanden so ein, dass dieser schon für sich Forderungen erhoben habe, jedoch nicht in außerordentlicher Weise. Er habe U. einen unauffälligen Selbstbehauptungswillen und ein Selbstbewusstsein diagnostiziert, bei dem die Forderungen nicht an andere gestellt würden, sondern U.s Eigeninteressen beträfen.
Immer wieder wurde in den Vorgutachten das Thema Narzissmus diskutiert. Der VR fragt den Zeugen nach seiner Definition von Narzissmus. Nach Ansicht von Prof. Kröber ist Narzissmus nichts Pathologisches und werde auch nicht als ICD-10-Diagnose [internationale statistische Klassifikation von Krankheiten], sondern in Kombination mit dem Adjektiv „pathologisch“ als Arbeitsbegriff verwendet. Menschen würden ihr Leben lang an der Aufrechterhaltung ihres Selbstwertgefühls arbeiten, um mit anderen interagieren zu können. Bei einer Krankheit oder Inhaftierung werde das Selbstwertgefühl gefährdet. Betroffene würden hier versuchten, ihr Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten, zum Beispiel, indem sie Schwächere abwerten.
Drogenkonsum und Dissozialität
Das Thema Alkohol und der Konsum weiterer Drogen findet in Kröbers Gutachten ebenso Erwähnung. Der Zeuge hat das Thema nicht mehr so richtig in Erinnerung. Es sei im Gespräch deutlich geworden, dass es in den vergangenen Jahren keine Verstöße gegeben habe, U. jedoch zuvor im Gefängnis Drogen konsumiert habe. Dies sei insbesondere vor seiner Haftzeit, vor allem. in U.s „Stricherzeit“ geschehen. Laut den Unterlagen habe es Klinikaufenthalte wegen des Alkoholkonsums gegeben. Substanzmissbrauch sei für U. ein Thema in Krisenzeiten, also wenn er einen Stimmungseinbruch habe oder ihn die Kraft verlasse. Insgesamt habe er bei U. beobachtet, dass er antriebsreicher als der Durchschnitt sei. U. erleide zwar depressive Einbrüche, die aber nach einiger Zeit vergingen.
Der VR fragt den Zeugen, was es mit dem Begriff „dissoziale Prägung“ in seinem Gutachten auf sich habe. Kröber erklärt, dass eine soziale Integration fehle, aber auch das Bemühen, sich sozial in ein normales Leben einzugliedern. U. habe sich körperlich behaupten müssen und halte das für legitim, weil er keine andere Möglichkeit sehe.
Ist U. stolz auf seine kriminelle Vergangenheit?
Der VR hält dem Zeugen einen Vorfall aus U.s Zeit als Inhaftierter in Geldern vor. Dort habe U. einem Mithäftling das Nasenbein vierfach gebrochen, nachdem dieser sich einer Vergewaltigung gerühmt habe. Der VR möchte wissen, ob in U.s Schilderungen über seine kriminelle Karriere ein Stolz gelegen habe. Kröber erörtert diese Frage unter Rückgriff auf U.s Biografie, der als dissozialer Jugendlicher gewaltnah aufgewachsen sei. Es habe viele Schlägereien gegeben, die nicht abgeurteilt worden seien, weil man beispielsweise im Strichermilieu nicht einfach zur Polizei gehe. In Haft gehörten Schlägereien, die von Bediensteten nicht bemerkt werden, dazu. U. habe das jedoch nicht als große Heldentaten geschildert. Der VR hakt ein, dass er von Angeklagten oft überschwänglich Errungenschaften aus der Jugendzeit erzählt bekomme. Hier seien es „kriminelle Schweinereien“. Ob U. Verantwortung für die Übernahme von Straftaten geäußert habe? Ersteres kommentiert der Zeuge damit, dass Kriminalität keine psychologische Krankheit sei. Zum zweiten kann er sich nicht erinnern, dass dies einen wichtigen Platz eingenommen habe. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage sei in anderen Fällen wichtiger, in denen Betroffene glauben würden, sie trügen keine Schuld.
U.s Geschichten seien dramatisch, aber nicht manipulativ
Auf Seite 32 seines Gutachtens berichtete Prof. Kröber, wie Paul-Ludwig U. seine Geschichte dem WDR schilderte. Für den VR stellt sich die Frage, ob U. sich aus Stolz und dem Versuch, sich wichtig zu machen, an den WDR gewandt habe. Der Zeuge erläutert, das sei eine Option, die Gefangene normalerweise nicht nutzen würden. U. habe das clever gemacht. Er habe Leute gekannt und einen Effekt erzielt. Später habe er gesehen, dass er sich hätte an den Arzt wenden können. Der VR hört aus solchen Schilderungen heraus, dass der Zeuge den Angeklagten U. für fähig halte, sich in unterschiedlichen Systemen zurechtzufinden. Für Prof. Kröber ist das ein Ausdruck von U.s Intelligenz und seiner Erfahrungen aus der Kindheit, in der er sich ebenfalls in unterschiedlichen Szenen habe zurechtfinden müssen. Sein Wahrnehmungsvermögen sei eindrucksvoll.
Der VR fragt nach dem manipulativen Anteil in U.s Erzählung. Der Zeuge wiegelt ab. Wenn sich jemand gut ausdrücke, werde das als manipulativ gedeutet. Stottere jemand herum, dann nicht. U. habe verdeutlichen wollen, dass er kein von kriminellen Motiven geleiteter Mensch sei, sondern bereit, sich sozialen Normen zu fügen, aber auch seine Sonderausflüge mache. „Natürlich hat er das Recht, seine Person positiv darzustellen“, so der Zeuge.
„Manipulativ“: Ein Schimpfwort des Maßregelvollzugs
Der VR verweist auf Aussagen anderer Gutachter, die befragt wurden. Diese hätten zur Beschreibung von U. und seinen Erzählungen Begriffe wie „manipulativ“, „ausschmückend“, „konfabulierend“ oder „dramatisierend“ verwendet. Kröber erwidert, für ihn seien dies Schimpfwörter des Maßregelvollzugs. Ihm seien keine Lügengeschichten oder Manipulationen bekannt. Die Geschichten, die U. erzähle, seien erzählenswert und dramatisch genug. Er habe nicht feststellen können, dass U. mit Maßnahmen und Desinformationen Leute gegeneinander ausgespielt habe. Auf die Frage des VR, ob U. dramatisiere oder aufbausche, antwortet der Zeuge, er habe keinen Versuch gesehen, etwas zu übertreiben, sondern lebendig zu erzählen. Auf den Vorhalt der Formulierung „Herr U. braucht unentwegt eine Bühne“ durch den VR entgegnet der Zeuge, man müsse das belegen, wo draußen die Bühne gewesen sei. Auf Schloss Haldem sei ihm nichts Derartiges geschildert worden. Zwar habe U. mit dem WDR versucht, seine Story zu verbreiten, aber dies sei etwas anderes, als sich permanent selbst darzustellen.
Kritisch betrachtet der Zeuge auch die Einschätzung, U. habe einen „überbordenden Geltungsdrang“. Er fragt, wie viel Geltungsdrang ein Patient im Maßregelvollzug zugestanden werde und wie viel Geltungsdrang ein Gutachter habe. Jeder wolle doch etwas Besonderes sein. U. habe sich in Situationen begeben, wo Action sei. Damit knüpfe er an seine Jugend an, wo er keine Chance gehabt habe, Risikosituationen zu entgehen. Deshalb habe U. weniger Sorgen, sich zu exponieren. U. habe Techniken entwickelt, die andere stören würden. Die meisten hätten ihre Patienten lieber weniger aktiv.
Hat der Proband im Maßregelvollzug gelernt, Spiele zu spielen, die er außerhalb anwenden kann, möchte der VR wissen. Das komme auf das Spiel an, so Prof. Kröber. U. habe die Fertigkeit, Räume auszuloten, Regeln zu erkennen und im vorhandenen Rahmen die Regeln anzuwenden. Bei der Übertretung von Regeln habe er Glück mit der Nachsicht der Leute im Maßregelvollzug gehabt.
Gewaltfantasien und Risikobereitschaft
Der Sachverständige Dr. Winckler hebt auf eine Stellungnahme aus den Akten vom 6. September 2002 ab. Darin wird festgehalten, dass U. „erhebliche Gewaltfantasien“ gegenüber Personen habe, über die er sich ärgere. Dies gehe hin bis zu „Tötungsfantasien“. Für den Zeugen klingt das nach „Maßregelvollzugstherapie“, nach einer „Lernleistung des Gutachters“. U. habe nie Tötungsversuche unternommen oder Waffen eingesetzt. Auf Kränkungen reagiere jeder mit Wut. Das könne auch ihm selbst passieren, dass er sich mörderisch ärgere, ohne jemand töten zu wollen. Für ihn höre sich das nach „Jedermanns-Psychologie“ an.
Da von Seiten der Bundesanwaltschaft keine Fragen gestellt werden, sind jetzt die Anwält*innen der Verteidigung an der Reihe. RA Herzogenrath-Amelung interessiert sich für die Aussage des Zeugen, dass er nicht darüber überrascht gewesen sei, dass Paul-Ludwig U. Informant der Polizei war. Er möchte wissen, ob es sich bei U. um einen nicht risikoscheuen Probanden handle, um jemanden, der dorthin gehe, „wo was los ist“. Kröber bejaht, dass er U. für nicht risikoscheu halte. U. habe weniger Ängste als ein preußischer Beamter. Es sei, so stehe es in seinem Gutachten, das „monotone Spießerleben in einer Randrolle“, das U. abgeschreckt habe. Des Weiteren hält RA Herzogenrath-Amelung dem Zeugen eine Aussage des Gutachters Lutz G. vor, der bezüglich der drei Geiselnahmen erklärt habe, der Proband U. wolle mächtig sein und die Aufmerksamkeit seiner Umgebung erzwingen. Für Kröber hört sich das nach einer Spekulation an. Natürlich ziehe man mit einer Geiselnahme die Aufmerksamkeit auf sich, aber die Aufmerksamkeit sei nicht immer das Ziel einer Geiselnahme. Er deute den Zweck der Geiselnahme so, dass Paul-Ludwig U. die angegebenen Ziele [z.B. Geldbeschaffung] habe erreichen wollen. Der RA moniert, dass für ihn bei der Befragung nicht immer klar gewesen sei, ob Kröber als Zeuge oder als Sachverständiger vernommen wurde.
Prof. Kröber hat keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit von U.
Markus K.s Verteidigerin RAin Schwaben fragt nach U.s Glaubwürdigkeit. Der Zeuge erklärt, er habe keine Anhaltspunkte gesehen, diese in Frage zu stellen. Die Aussagen des Probanden hätten der Aktenlage entsprochen und seien nicht erfunden gewesen.
RA Berthold, Verteidiger von Michael B., greift den Punkt auf und bezieht sich auf die Geschichte von U.s Spritztour. U. sei mit dem Wagen liegengeblieben, habe dann nach seiner Schilderung die Warnblinkanlage angemacht und das Auto an die Seite geschoben. Der RA möchte von Kröber wissen, ob er die Geschichte überprüft habe, und ob ihm aufgefallen sei, dass bei einem Auto mit leerer Batterie die Warnblinkanlage nicht funktionieren könne. Der Zeuge gibt an, die Geschichte nicht überprüft zu haben. Dies sei eine komische Ausschmückung. Für ihn habe sich das eher nach einem Beleg angehört, wie U. Geschichten anreichere. Die Sache mit der Warnblinkanlage sei ihm nicht aufgefallen. Auf RA Bertholds Frage, ob U. nicht irgendwann doch „eine große Oper“ wie bei der Geiselnahme in Münster inszenieren könne, antwortet Prof. Kröber, dass es Nachwirkungen von Dissozialität gebe, die in bestimmten Situationen wieder aktivierbar seien. Darauf müsse U. selbst achten. Rückfällig werde man jedenfalls nicht durch Krankheit, sondern durch Dissozialität.
Prof. Kröber schätzt U. nicht als Borderliner ein
In der Befragung durch den Senat greift der VR auch die Diagnose Borderline auf und fragt den Zeugen, wonach er suche, wenn Vorgutachten diese Diagnose stellten. Der Zeuge erklärt, dass Gespräche mit Borderlinern unter einer gewissen Anspannungssituation stünden und schwierig seien. Ihr Handeln sei durch massive emotionale Umschwünge gekennzeichnet. Es gebe übertriebene Bemühungen, nicht verlassen zu werden bzw. darum zu kämpfen, dass andere parat stünden. Hinzu kämen Selbstverletzungen. Es handle sich jedoch um eine gut zu erkennende Krankheit. Bei Paul-Ludwig U. habe er nichts finden können, was auch nur entfernt für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung gesprochen habe. Im Gegenteil: U. sei eher „Anti-Borderliner“ mit einem stabilen Selbstbewusstsein.
RA Mandic stellt dem Zeugen Fragen zu seiner Borderline-Expertise und zu U.s Beziehungsfähigkeit. Der RA hält ihm unter anderem einen „kreativen Umgang mit Fachinformationen“ vor. Er, Mandic, habe gelesen, dass Borderline stark die sexuelle Ebene berühre. Kröber korrigiert diese Ansicht: Borderline sei kein Partnerschaftsproblem, sondern ein Beziehungsmuster, das mit der Unfähigkeit zu tun habe, mit anderen in Nähe zu kommen. Dies betreffe alle zwischenmenschlichen Beziehungen zu wichtigen Personen. Im Gegensatz zu Borderlinern habe Paul-Ludwig U. langandauernde therapeutische Beziehungen aufrechterhalten können, trotz Kritik, Absagen und Kränkungen. Er betrachte U. als grundsätzlich beziehungsfähig. U. könne mit Enttäuschungen umgehen. Dies zeige auch sein konstruktiver Umgang mit den Mitarbeitenden des Maßregelvollzug in Schloss Haldem.
Anschließend wird der Zeuge unvereidigt entlassen. Der VR weist darauf hin, dass die Verfahrensbeteiligten am Donnerstag ihre Erklärungen abgeben könnten. Anschließend werde die Verlesung der Erklärung des Angeklagte Tony E. fortgesetzt.