Prozesstag 44: Gutachter attestiert Paul-Ludwig U. Manipulationsfähigkeit

Am 44. Prozesstag, gegen die „Gruppe S“ am 23. November 2021 wurde Dr. Michael P. (60) vernommen. Er hatte als Facharzt für Psychiatrie und Psychologie im März 2015 ein Prognose-Gutachten über Paul-Ludwig U. erstellt. Wie andere Zeugen zuvor sollte auch P. vor Gericht die Glaubwürdigkeit und Schuldfähigkeit des Angeklagten Paul-Ludwig U. einschätzen, da dessen Aussagen und Berichte einen großen Teil der Anklageschrift ausmachen. Ihm wurde von dem Arzt unter anderem eine narzisstische Störung bescheinigt. Die Diagnose einer Borderline-Störung lehnte er dagegen ab. Rechtsanwalt (RA) Siebers beantragte am Schluss des Prozesstages, eine Akte aus Köln heranzuziehen. Sie beweise, dass Paul-Ludwig U. trotz strafbarer Handlung von den Behörden nicht angeklagt worden sei, da er „als Geheimwaffe“ von unterschiedlichen Behörden eingesetzt werde.

Der Vorsitzende Richter (VR) fragt nach Stellungnahmen der Vertreterinnen des Generalbundesanwalts zum Beweisantrag von Werner S.‘ Verteidiger RA Siebers. [Dieser hatte beantragt, einen Mannheimer Polizisten zu vernehmen, um festzustellen, dass die Kontrolle und Waffenbeschlagnahme von Paul-Ludwig U.s. am 2. Oktober 2019 kein Zufall gewesen sei, sondern auf Anweisung des LKA geschah.] Staatsanwältin (StAin) Masslow entgegnet, dass man dem Beweisantrag entgegentrete. Es gebe keine Hinweise auf ein Gespräch zwischen dem LKA und dem Polizeirevier Mannheim. K. [U.s Kontakt-Polizist beim LKA] habe außerdem U. im Telefonat ausdrücklich aufgefordert, keine Waffe mitzunehmen.

Der VR verliert einige einleitende Worte zum heutigen Zeugen: Dieser sei nicht als Gutachter vor Ort und solle nicht das Gutachten erklären, sondern werde als Zeuge zu seinen Feststellungen über U. aus dem Jahr 2019 befragt. Der Zeuge gibt kurz seinen Lebenslauf wieder: Er habe in Bonn studiert und ab 1993 Menschen im Strafvollzug therapiert, darunter auch Sexualstraftäter. Seit 1997 sei er Facharzt für Psychiatrie, später auch Facharzt für Psychotherapie. Sachverständiger sei er seit 20 Jahren. Er arbeite seit 2009 in einer Praxis und mache seit 2010 viele Prognose-Begutachtungen. Pro Jahr erstelle er ungefähr 40 Gutachten. Darunter seien viele Prognosen, aber auch Strafsachen, also Fragen der Schuldfähigkeit. Seine Auftraggeber seien meist Gerichte und Staatsanwaltschaften. Im Jahr 2015 sei er häufiger Gutachter für den Maßregelvollzug gewesen – so auch in U.s Fall.

Zwei Gutachter, zwei Urteile, zwei Prognosen

Er habe dessen Akten von der Klinik bekommen, diese ausgewertet und anschließend mit U. persönlich gesprochen. Für diese sogenannte Exploration habe er sich bei U. sechs Stunden Zeit genommen. Er lasse die Exploration diktieren, sodass der Proband es höre. Später lese er das Protokoll dann nochmal mit zeitlichem Abstand durch. Als der Anruf des Gerichts bezüglich seiner heutigen Zeugenaussage gekommen sei, habe er „null Erinnerung“ an U. gehabt. Deshalb habe er in seine Unterlagen geschaut und sei wieder im Thema gewesen. Er erinnere sich an die Explorations-Situation und daran, wie U. gesprochen und geweint habe. Es sei kein normales Gutachten gewesen.

Das Gutachten habe er am 10. September 2016 am Prignitz-See auf einer Fortbildung vorgestellt, unter anderem mit Prof. K. [Die beiden Kollegen waren sich sehr uneins darüber, ob und inwiefern U. krank und gefährlich sein könnte. Näheres siehe 46. Prozesstag.] Besagter Professor habe U. nach ihm begutachtet. Sie hätten auf einer Tagung eine gemeinsame vergleichende Fallvorstellung gemacht. In ihren Urteilen seien sie sich nicht einig gewesen. Der Zeuge beharrt darauf, dass sein Gutachten gut begründet sei; er habe dafür auch die Urteile [unter anderem eines vom Landgericht Münster], frühere Gutachten, die Exploration, Gespräche mit Ärzten und Pflegern verwendet. K.s hingegen habe eine Gefährlichkeit U.s nicht mehr für gegeben gehalten.

Paul-Ludwig U.s Exploration

Der VR stellt fest, dass der Zeuge am 27. Februar 2015 sein erstes und letztes Zusammentreffen mit Paul-Ludwig U. hatte. P. berichtet, dass U. an diesem Tag bis auf das Weinen entspannt geblieben sei. Er habe selbstgewiss, selbstsicher und klug gewirkt. Der VR zitiert die Worte des Zeugen von damals: „Man konnte sich ihn ohne Probleme als politischen Redner vorstellen.“ Daran kann sich P. nicht mehr gut erinnern. Er erzählt, dass U. im Gespräch über seine beruflichen Facetten berichtet habe: Dass er in Schotten (Hessen) Mitglied der Bergwacht gewesen sei und als Rettungssanitäter viele Tote gesehen habe. U. habe auch erzählt, dass er versucht habe, sich mit einer Schreckschusswaffe umzubringen. Auch habe er eine TV-Doku über ihn erwähnt. P. bilanziert, U. erhebe sehr ersichtlich einen Anspruch auf Bewunderung und hohe Anerkennung.

Zu dem Schluss der narzisstischen Störung sei er durch die Schilderung der Flucht 2002 und U.s Schluss daraus, dass er keinerlei Behandlung brauche, gelangt. Der Proband sei aus einer Depression heraus zum Geiselnehmer geworden. In der Therapie habe man mit U. daran nicht gearbeitet.

Ein dramatischer Kriminalitätsverlauf

Auf die Frage des Sachverständigen Winckler an den Zeugen, warum dieser U. am Ende seines Gutachtens in einer persönlichen Ansprache „Viel Erfolg“ gewünscht habe, antwortet der Zeuge: „Wegen der Dramatik des Kriminalitätsverlaufs“. Für ihn sei dies die besondere Tragik eines Menschen, der Talente habe, die aber in seinem Leben nicht zum Tragen kämen. U. habe mehrere Geiselnahmen verübt, resultierend aus persönlichen Zusammenbrüchen mit suizidalen Tendenzen.

Michael B.s Verteidiger RA Berthold hält dem Zeugen ein Zitat aus seinem Gutachten vor: „Wobei der Eindruck entstand, dass Herr U. kein Gefühl dafür hatte, dass seine Berichte ins Grandiose abdrifteten.“ Auf die Frage, ob er U. für jemanden halte, der nach damaliger Einschätzung gut manipulieren könne, entgegnet der Zeuge: „Er kann das.“ In Bezug auf die Geiselnahme 2002 habe das auch das Gericht festgestellt.

Behördliche „Geheimwaffe“ Paul-Ludwig U.?

RA Siebers gibt eine Erklärung zur Stellungnahme der StAin zu Beginn des Prozesstages ab. Deren Behauptung, die Frage nach der Waffenbeschlagnahmung von U. sei eine „Behauptung ins Blaue“, sei falsch. Dann stellt RA Siebers einen neuen Antrag: Er will, dass eine Akte aus Köln aus einem anderen Verfahren gegen U. herangezogen wird. Darin gehe es um den Vorwurf, U. habe Kinderpornos mit anderen getauscht. U. werde als Hinweisgeber, aber nicht als Zeuge geführt. Die Behörden hätten damals eine Strafverfolgung verhindert. U. werde als „Geheimwaffe“ von unterschiedlichen Behörden eingesetzt. Wegen unkontrollierbarer Geschwätzigkeit sei er aber kein V-Mann. Man habe ihn in verschiedenen Verfahren von Beginn an nur formal als Beschuldigten geführt und ihm Versprechungen gemacht. Bis auf RA Scholz und RA Haupt schließen sich alle RA*innen dem Antrag an. Damit endet der 44. Prozesstag.

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