Prozesstag 35: Gab Werner S. den Auftrag, Paul-Ludwig U. zu ermorden?

Am 35. Prozesstag, dem 14. Oktober 2021, ging es um drei Themenkomplexe. Zunächst wurde der Zeuge Armando B. befragt, ein ehemaliger Mithäftling von Werner S. in der JVA Augsburg-Gablingen. Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) und auch der Senat gehen davon aus, dass B. dabei war, als Werner S. einem anderen Gefangenen einen Auftrag gegeben haben soll, den „Verräter“ Paul-Ludwig U. zu ermorden. B. stritt das vor Gericht ab, verwickelte sich aber in Widersprüche. Im zweiten und dritten Teil dieses Verhandlungstages wurden Videomitschnitte der Haftprüfungstermine der Angeklagten Marcel W. und Michael B. gezeigt. Entschieden wurde hierbei, dass W. in Haft bleibt, B. aber auf freien Fuß gesetzt wird.

Zu Beginn des 35. Hauptverhandlungstages erläutert der Vorsitzende Richter (VR), wieso der für den 12. Oktober 2021 angesetzte Hauptverhandlungstag abgesagt wurde. Bei einem JVA-Beamten, der bei einem Besuchstermin des Angeklagten Stefan K. mit im Raum gewesen sei, seien Corona-Symptome aufgetreten. Vor Beginn des Verhandlungstages sei eine Infektion nicht sicher auszuschließen gewesen. Letztendlich seien beide negativ getestet worden. Rechtsanwalt (RA) Mandic weiß einmal mehr durch eine sachkundige Bemerkung zu glänzen: „Haben wir damit zu rechnen, dass jedes Mal, wenn jemand niest, ein Verhandlungstage ausfällt?“ Antwort des VR: „Ich nehme das so zur Kenntnis.“

Am heutigen Tag wird als Zeuge der 45-jährige Restaurant-Fachmann Armando B. vernommen, der derzeit in der JVA Kempten einsitzt. Ebenfalls geladen ist eine Dolmetscherin (italienisch/deutsch). Der Zeuge sei der deutschen Sprache zwar mächtig, möglicherweise träten aber Situationen ein, die ohne Dolmetscherin nicht zu bewältigen seien, so der VR. Auf Frage des VR gibt Armando B. an, dass er in Neapel aufgewachsen sei und dort eine Realschule und eine Berufsschule besucht und absolviert habe. Mit Anfang 20 sei er nach Deutschland gekommen. Erst habe er in Augsburg in einem Restaurant gearbeitet, dann habe er dort mit seinen fünf Geschwistern ein eigenes Restaurant eröffnet.

Anschließend geht es um B.s Haftkarriere. Dabei ergibt sich,

  • dass er bereits mehrfach in Haft war wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, „aber auch wegen Betrugs“,
  • dass er bis vor 16 Jahren abhängig von Heroin und Kokain war und dann eine stationäre Therapie gemacht hat, und
  • dass er seit Januar 2020 wegen Bandendiebstahls (10 Monate) und wegen versuchten Betrugs (20 Monate) einsitzt, zunächst in der JVA Augsburg-Gablingen und seit Januar 2021 in der JVA Kempten.

„Wer mit mir redet, kann kein Rechtsextremist sein“

Der VR möchte Näheres über B.s Kontakt zu Werner S. wissen. S. habe er, so B., auf seinem Gang bzw. in seiner mit 15 bis 16 Gefangenen besetzten Abteilung in Gablingen kennengelernt. Er sei an S. nicht wirklich interessiert gewesen: „Hatte meine Leute schon.“ Man habe Deutsch miteinander gesprochen, S. habe aber auch Englisch gekonnt. Auf Italienisch habe S. nur wenige Worte gekannt. Er habe S. mit „Matthias“ angesprochen, die Spitznamen „Giovanni“ und „Teutonico“ würden ihm nichts sagen.

Der VR bringt nun einen Mitgefangenen von B. und S. ins Spiel, einen Herrn L. Der habe ausgesagt, das Werner S. mit ihm Englisch gesprochen habe und gerade Italienisch lernen würde. B. erwidert: „Kann sein.“ Sein Verhältnis zu Werner S. würde er, so B. als „normal, eher schlechter“ beschreiben. Man habe keinen gemeinsamen Redestoff gehabt. S. sei zudem Deutscher, er selbst „Ausländer“. Möglicherweise habe er auch mal eine ganze Woche lang überhaupt nicht mit ihm gesprochen.

S. habe „sehr ängstlich“ gewirkt, „weil alles neu für ihn war“: „Sein Fall hat ihm Angst gemacht.“ S. sei aber auf andere Gefangene zugegangen, sei nicht schüchtern gewesen, habe gerne gemalt und mit Herrn L. und einem Albaner (Herrn Ba.) Schach gespielt. Manchmal habe S. auch depressiv gewirkt, weil er offenbar wegen seiner Inhaftierung keine Perspektive für sich gesehen habe. Er habe gewirkt wie jemand, der „in etwas reingezogen wurde, wo er nicht hinwollte“. Über das ihm Vorgeworfene habe S. irgendwann mal „oberflächlich“ gesprochen, nämlich angeblich „Kopf einer Bande“ zu sein, „die terroristische Sachen plant“. S. sei der Meinung gewesen, zu Unrecht ins Gefängnis gewandert zu sein.

Der VR möchte von B. wissen,

  • ob S. sich politisch geäußert habe („Ja, dass Merkel scheiße ist.“),
  • ob S. sich über „Ausländer“ geäußert habe („Nein. Er machte nicht den Eindruck, dass er Ausländer nicht mag.“),
  • ob S. etwas über Juden oder über den Islam gesagt habe („Nein.“),
  • ob sich S. zur „Flüchtlingskrise“ geäußert habe („Ja, dass die unkontrolliert sei und Verbrecher eingeschleust würden. Das sagt aber jeder hier im Knast.“),
  • ob es Hinweise auf NS-Gedankengut gegeben habe („Nein.“),
  • ob er Werner S. für einen „Rechtsextremisten“ halten würde („So jemanden stelle ich mir ganz anders vor. Ich bin Ausländer, wer mit mir redet, kann kein Rechtsextremist sein. Oder aber er ist ein Feigling. Ich bin Mitte.“),
  • wie er Werner S. politisch einschätzen würde („Er wollte eine Veränderung für sein Land, so wie die AfD, auf jeden Fall nicht extrem. Eher ein Querdenker, ein ganz normaler Bürger, aber ins falsche Umfeld geraten.“) und
  • wo er (B.) die AfD politisch einordnen würde („So konservativ. Geregelte Migration, gerechte Löhne für alle.“).

„Kein Mann, der ein Nein akzeptiert.“

Der VR möchte mehr über den bereits erwähnten gemeinsamen Mitgefangenen des Zeugen B. und des Angeklagten S. wissen: „Was ist L. für ein Typ?“ B. führt sinngemäß aus, dass L. sehr selbstgefällig, arrogant und beleidigend sei. Er sei so eine Art „Möchtegern“-Chef unter den Gefangenen in der Abteilung. L. denke „ganz anders als Matthias“ und sei „ein extremer Linker“, der ein Foto von der Fahne der CPI [Kommunistische Partei Italiens] in seiner Zelle an der Wand habe. Auf die Frage nach der Beziehung des Zeugen zu L. antwortetet B.: „Wir kommen beide aus Neapel. Ich habe für ihn übersetzt und ihm geholfen, da er die Sprache nicht kann.“ B. merkt an, dass neapolitanisch nur sehr wenig Gemeinsamkeiten mit der italienischen Sprache habe. Er habe L. immer geholfen, schon aufgrund der gemeinsamen neapolitanischen Herkunft. Wenn er das nicht getan hätte, dann hätte seine Familie in Neapel auch möglicherweise Ärger bekommen. Man sei eben so erzogen worden, dass man einander im Ausland helfen müsse. Eine Freundschaft habe ihn mit L. aber nicht verbunden.

L. sei nicht dumm, aber auch nicht schlau, führt der Zeuge auf weitere Fragen des VR hin aus. Werner S. sei zwar der Klügere von den beiden, aber L. habe in der Abteilung mehr zu sagen gehabt, zumal er mehr Erfahrung gehabt habe. L. sei auch schon mal schlecht mit Mitgefangenen umgegangen: „Er wollte mehr Respekt. Wie in Italien. Weil er mehr Vorstrafen hatte.“ Werner S. sei L. mit Respekt begegnet, der habe das aber nicht erwidert. L. habe auch bei ihm selbst, so B., „versucht“, sich über ihn zu stellen, obwohl L. erst nach ihm nach Gablingen gekommen sei. Damit sei L. allerdings gescheitert.

Am meisten Kontakt habe L. zu ihm (B.) gehabt, aber auch zu Werner S. und Herrn Ba., mit denen L. oft in der Zelle von S. Schach gespielt habe, „sonst mit niemandem“. L. und S. hätten sich gut auf Englisch verständigen können. Der Zeuge berichtet, dass L. Werner S. gezwungen habe, von dessen Geld für ihn einzukaufen, und dass sich Werner S. irgendwann ratsuchend an ihn (B.) gewandt hätte, weil er das nicht länger habe mitmachen wollen. Er (B.) habe S. geraten, er möge sagen, dass er sein Geld seiner Freundin geben müsse, weil diese es dringend brauchen würde. B.: „L. ist kein Mann, der ein [einfaches] Nein akzeptiert.“ L. habe mehr ausgeben wollen, als ihm zur Verfügung gestanden habe. Hin und wieder habe er S. etwas von seinem in der Kochgruppe selbst gekochten Essen abgegeben.

Gab Werner S. einen Mord in Auftrag?

Auf die Frage des VR, ob der Zeuge mitbekommen habe, „dass jemand zu einem Auftragsmord angestiftet wurde“, antwortet dieser mit „Nicht direkt.“ Der VR hakt nach: „Sie sollen dabei gewesen sein, als die beiden darüber gesprochen haben.“ B. antwortet, er könne kein Englisch, die beiden (L. und S.) hätten sich immer auf Englisch unterhalten. Er sei nicht als Dolmetscher bei einem solchen Gespräch dabei gewesen: „Bei so etwas zieht man auch keinen Dritten hinzu.“

Im Folgenden geht es um Diskrepanzen zwischen den Aussagen, die L. bei seiner polizeilichen Vernehmung zum Thema Auftragsmord gemacht haben soll, und dem, was B. nun vor dem OLG dazu aussagt. B. räumt jetzt doch ein, einmal bei einem Gespräch zwischen den beiden übersetzt zu haben, bei dem sich Werner S. nach Herrn L.s Vorstrafen erkundigt haben soll. Das habe in L.s Zelle stattgefunden. Er habe aber nichts davon mitbekommen, dass Werner S. L. über einen „Verräter“ in seiner Gruppe (Paul-Ludwig U.) informiert habe. Auch nichts davon – darüber hatte L. offenbar in seiner polizeilichen Vernehmung berichtet –, dass Werner S. in dem Gespräch seine Idee kommuniziert habe, „den Verräter zu töten“.

Auf der anderen Seite kann sich B. auf Frage des Vorsitzenden dann doch an eine Situation erinnern, in der er auf Bitte von L. eine handschriftliche Adresse in Druckbuchstaben übertragen habe. Wiederum nicht mitbekommen habe er, dass Werner S. gesagt haben soll, dass [bei Durchführung des Auftrags] über seine Freundin Karin T. Geld an Verwandte von L. fließen werde.

„Das passt nicht!“

Der VR äußert massive Zweifel am Wahrheitsgehalt von B.s Aussagen: „Das passt nicht!“ L. habe etwas anderes gegenüber der Polizei ausgesagt. „Warum sollte L. Ihnen Probleme bereiten?“, fragt der VR. B. antwortet, dass L. ein „Idiot“ und „überheblich“ sei. L. habe wohl gedacht, er (B.) würde alles bestätigen, „auch wenn es nicht stimmt“. Der VR zeigt B. eine Lichtbild-Kopie von Paul-Ludwig U., auf der in Druckbuchstaben dessen Name, Geburtsdatum und Haftadresse notiert sind. Auf die Frage „Kennen Sie das Bild?“ sagt B.: „Ja, ich habe das drauf geschrieben. L. konnte die Handschrift nicht lesen.“

Der VR stellt noch einmal die zentrale Frage an den Zeugen: Ob er etwas davon mitbekommen habe, dass L. von Werner S. beauftragt worden sei, einen Mord zu begehen. Armando B. verneint die Frage. L. habe ihm gesagt, er brauche sich wegen des aufgeschriebenen Namens keine Gedanken machen.

Der VR zitiert aus dem Vernehmungsprotokoll, wonach B. ausgesagt haben soll, dass er nach Rückgabe des beschrifteten Lichtbilds an L. diesen gefragt haben soll, was das solle. L. habe auf neapolitanisch geantwortet: „Dieser dumme Mensch wollte, dass ich jemand erledige.“ Er habe dann zu L. gesagt: „Du bist bescheuert, dass du so etwas mit dem besprichst.“ L. habe erwidert: „Ich wollte nur mal schauen. Mach dir keinen Kopf, es wird nichts passieren.“

Der Zeuge bestätigt zunächst, dass es so gewesen sei, und dass L. ihm gesagt habe, dass die Person auf dem Lichtbild, dessen Name er (B.) zur besseren Lesbarkeit in Druckbuchstaben aufgeschrieben hatte, umgebracht werden sollte. Dann allerdings streitet er erneut ab, dass L. ihm erzählt habe, dass er zu einem Mord beauftragt worden sei. Er sei davon ausgegangen, dass es um irgendwelche Machenschaften mit Geld ging. Gedolmetscht habe er nur den Part zu den Vorstrafen.

Nach einer kurzen Pause ermahnt der VR den Zeugen, sich an die Zeugenbelehrung zu erinnern. Bevor er das Wort der Anklagebehörde übergibt, fragt er noch einmal: „Ist das, was Sie bisher sagten, alles richtig?“ Antwort von B.: „Ja!“

Anklagebehörde droht mit Freiheitsstrafe

Oberstaatsanwältin (OStAin) Bellay weist den Zeugen scharf auf die Strafbarkeit einer Falschaussage hin („Freiheitsstrafe nicht unter drei Monaten“) und zitiert noch einmal aus B.s polizeilichen Aussagen. B. besteht darauf, dass er nicht an dem Gespräch oder Gesprächsteil, bei dem es um einen Mordauftrag gegangen sein soll, teilgenommen habe. OStAin Bellay fragt, ob er Angst vor Rechtsextremisten habe. B. lacht. Bellay zitiert aus der polizeilichen Vernehmung: „Frage: ‚Haben Sie Angst vor Werner S.?‘ Antwort: ‚Eigentlich nicht. Ich kann die Gruppierung hinter ihm aber nicht einschätzen.‘“ B. betont, dass er keine Angst gehabt habe, aber sich Vorteile aus der Situation in Form einer hafterleichternden Therapie erhofft habe. Wenn die Anklage genau wissen wollen würde, was er in seiner polizeilichen Vernehmung gesagt habe, könne sie sich ja die Audiodatei davon anhören.

Staatsanwältin Maslow möchte unter anderem wissen,

  • ob der Zeuge nach der Verlegung von L. in eine andere JVA noch Kontakt zu Werner S. gehabt habe (Antwort: „Nur auf dem Gang.“),
  • ob sich L. aktiv Werner S. angeboten habe („Nein!“),
  • ob sich L. selbst als „Mafiosi“ bezeichnet habe („Oft genug.“), und
  • ob Werner S. erwähnt habe, dass er von L. erpresst worden sei („Nicht mir gegenüber.“).

„Im Knast auf dumme Ideen“ gekommen

Frank H.s Verteidiger RA Herzogenrath-Amelung fragt zum Thema Italienisch-Kenntnisse von Werner S. nach. [Werner S. hatte immer mal wieder in Telefonaten behauptet, Italienisch zu können und längere Zeit in Italien unterwegs gewesen zu sein.] Der Zeuge betont, dass er hiervon nichts mitbekommen habe und davon ausgehe, dass S. die Sprache nicht beherrsche. Zudem habe ihn S. öfter mal gefragt, was dieses oder jenes auf Italienisch heiße.

RA Herzogenrath-Amelung möchte nun wissen, was Werner S. dem Zeugen über sein Leben vor der Haft erzählt habe. Der Zeuge gibt an,

  • dass S. erzählt habe, dass er seiner aktuellen Freundin geholfen habe, von Drogen wegzukommen. Mit ihr habe er ein Solarium-Geschäft aufgemacht,
  • dass er nicht mehr wisse, ob S. erzählt habe, wovon er lebe, und
  • dass S. über Immobilien in Deutschland gesprochen habe.

Werner S.‘ Verteidiger stellt fest, „dass auch ein Unschuldiger im Knast auf dumme Ideen kommen kann“. Er habe keine weitere Fragen.

RA Mandic, Verteidiger von Michael B., fragt den Zeugen, ob L. Sympathisant der „Kommunistischen Partei Italiens“ gewesen sei (Antwort: „Richtig“), und ob es aufgrund der AfD-Nähe von Werner S. nicht zu Streitgesprächen zwischen den beiden gekommen sei. B. gibt an, davon nichts mitbekommen zu haben. „Keine Ahnung, was der [L.] für Spielchen gespielt hat.“ L. hasse Deutsche. „Aber bei S. hat sich das nicht bemerkbar gemacht. Andere Deutsche hat er das spüren lassen. Merkwürdig. Ich kann nicht in seinen Kopf gucken.“

Marcel W.s Verteidiger RA Picker möchte wissen, ob L. gewusst habe, was Werner S. vorgeworfen wird. B. geht davon aus, dass L. das wusste. Picker stellt fest, dass L. dennoch mit S. Schach gespielt habe – um dann den versammelten, nicht wirklich daran interessierten Prozessbeteiligten mitzuteilen, dass er selbst sogar in einem Verein Schach spiele. Der VR schenkt ihm immerhin ein anerkennend wirkendes Lächeln. Bei der Entlassung des Zeugen kündigt der VR an, dass dieser vielleicht noch einmal vorgeladen werde. B. entgleitet die völlig entgeisterte Reaktion: „Och nee.“

RA Herzogenrath-Amelung stellt in einer Erklärung fest, dass Werner S. der italienischen Sprache nicht mächtig sei, das seien „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“: „Das weckt Zweifel, ob er tatsächlich einmal Carabinieri war oder intensive Kontakte nach Italien hatte.“ Offenbar möchte der RA damit einmal mehr die These stützen, dass S. lediglich ein Aufschneider und Maulheld sei, aber keinesfalls jemand, der Gesagtes auch in die Tat umzusetzen gedenkt.

Haftbefehl gegen Marcel W. aufrechterhalten

Im zweiten Teil des Hauptverhandlungstages geht es um den Haftprüfungstermin von Marcel W. am 4. August 2021, also um die Frage, ob der Haftbefehl erneuert wird, ob W. weiterhin in Untersuchungshaft verbleibt oder aber bei laufendem Prozess auf freien Fuß kommt. Der Senat geht davon aus, dass der 8. Februar 2020 als Gründungstermin einer terroristischen Vereinigung in Betracht kommt, und dass W. beteiligt war. W. wird daher eröffnet, dass er in Haft bleiben muss.

Die Tonqualität des nun gezeigten Videos von Marcel W.s Haftprüfung ist sehr schlecht, sodass nur eine grobe Zusammenfassung möglich ist. W. hatte sich zu diesem Termin bereiterklärt, zu seiner Person auszusagen, aber nicht zur Sache. Neben ihm, dem Senat und der GBA sind auch seine beiden Verteidiger RA Picker und RA Miksch anwesend. Die Befragung wird immer wieder unterbrochen durch teilweise minutenlanges Weinen und Schluchzen des Angeklagten.

Marcel W.s Lebensweg

Er sei, so Marcel W., 1981 in Halle an der Saale geboren worden, verheiratet und habe keine Berufsausbildung. Seinen leiblichen Vater habe er erst mit 13 Jahren kennengelernt; sein Stiefvater, von dem seine Mutter sich Mitte der neunziger Jahre habe scheiden lassen, habe ihn adoptiert. Er sei großteils bei den Großeltern aufgewachsen. Er habe Wende-bedingt die Schule gewechselt, sei ab der 6. Klasse in Berlin zur Schule gegangen, zuletzt auf eine Gesamtschule. Mit 16 habe er den Hauptschulabschluss gemacht und sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Eine Lehrstelle habe er nicht gefunden. Dann sei er von Berlin nach Sachsen zu seiner Mutter gezogen.

1997/1998 habe er seine jetzige Frau kennengelernt, mit der er seitdem zusammen sei. Sein späterer Schwiegervater habe ihn damals bei sich einziehen lassen, weil er nicht mehr bei seiner Mutter habe wohnen können. W. spricht davon, dass deren damaliger Lebensgefährte gewalttätig geworden sei. Seit vier oder fünf Jahren sei er nun verheiratet, so W. Seine Schwiegereltern seien damals nach Brandenburg gezogen, er und seine Freundin seien ihnen gefolgt. Er sei auf Zeitarbeit in Königs Wusterhausen beschäftigt gewesen und habe erfolglos versucht, sich selbstständig zu machen. Danach seien sie zurück nach Sachsen gezogen, wo 2002 sein Sohn geboren worden sei. Letztendlich seien sie dann in Pfaffenhofen an der Ilm gelandet.

Aus W.s Bericht und ergänzenden Angaben durch den VR ergibt sich, dass W. erstmals im Jahr 2000 wegen einer 1999 begangenen Körperverletzung verurteilt wurde. Weitere Verurteilungen wegen Körperverletzungen folgten in den folgenden Jahren, die ihm offenbar auch eine einjährige Haftstrafe einbrachten.

Zuletzt sei er selbstständiger Gerüstbauer gewesen, so W. Nebenbei habe er „Textildruck in eigenem Gewerbe“ betrieben. Der Versuch, mit einem Nachbarn zusammen einen Shop aufzumachen, sei aber gescheitert. Er habe zuletzt zwischen 1.700 und 2.300 Euro verdient. Seine Frau sei Bürokauffrau. W. sagt aus, dass er Depressionen und Angstzustände habe. Er mache sich zudem große Sorgen um seinen Sohn, dass dieser auf Abwege und unter die Räder kommen könnte.

„Mut bewiesen“

Die BA sieht die Haftgründe weiterhin gegeben. RA Picker beantragt, den Haftbefehl aufzuheben. W. habe eine starke Bindung zu seiner Familie, es bestehe keine Fluchtgefahr. RA Miksch betont, dass sich W. nach seiner Frau und seinem Sohn sehne. Gegebenenfalls wäre ein elektronisch überwachter Hausarrest ein Kompromiss. Der VR verkündet, dass der Haftbefehl aufgrund des dringenden Tatverdachts aufrechterhalten und W. in Haft bleiben werde. W. möge sich mit dem aktuellen Tatvorwurf auseinandersetzen und sich dazu verhalten. Das wäre ein denkbarer Schritt, das Strafmaß möglicherweise kleiner werden zu lassen.

Nach Beendigung der Präsentation der Videoaufnahme merkt der VR an, dass Marcel W. „Mut bewiesen“ habe, als er über seinen Werdegang berichtete. RA Herzogenrath-Amelung bekundet, man habe „einen in und durch die Haft gebrochenen Menschen gesehen“, der nicht aus demjenigen „Holz geschnitzt“ sei, „aus dem Rechtsterroristen gemacht sind“.

Michael B. aus der Haft entlassen

Im dritten Teil des heutigen Hauptverhandlungstages geht es um den Haftprüfungstermin des Angeklagten Michael B. am 4. August 2021. Geboren wurde er 1972 in Kirchheim unter Teck, wo er auch zum Zeitpunkt seiner Festnahme lebte. Beruf: Laserschweißer, Familienstand: ledig.

Michael B. ist wie Marcel W. bereit, zur Person, nicht aber zur Sache auszusagen. Nach der Grund- und Hauptschule habe er eine Lehre als Metzger gemacht und ab etwa 1992 seinen Bundeswehr-Grundwehrdienst als Feldkoch in Ellwangen-Jagst abgeleistet. Ein Angebot der Bundeswehr, nach Somalia zu gehen, habe er ausgeschlagen. Dann habe er eine Zimmermanns-Lehre begonnen, die er im fortgeschrittenen Stadium abgebrochen habe.

Er sei sehr begeistert von „Auf der Walz“-Geschichten und sehr sportlich, zeitweise sogar Wasserball-Jugendnationalspieler gewesen. Er habe in einer WG gelebt, im Erdgeschoss habe man zusammen einen Skaterladen betrieben. Dann sei seine Freundin plötzlich gestorben, und ihm habe sich die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt. Er sei viel unterwegs gewesen, sieben oder acht Winter zum Beispiel mit Snowboard im Zillertal, habe „Überleben“ gelernt. Im Sommer habe er als Zimmermann gearbeitet. Dann habe er seine spätere langjährige Freundin kennengelernt, sei aber völlig mittellos und gesundheitlich ziemlich kaputt gewesen wegen diverser Unfälle.

Michael B. stieg wegen der Haft aus seinem Betrieb aus

Nach eineinhalb Jahren habe sich die Chance einer vom Arbeitsamt unterstützten Umschulung zum Schweißer ergeben, die er sofort ergriffen und dann in einer Schlosserei in Wendlingen gearbeitet habe. 2006 sei dann seine erste, 2011 seine zweite Tochter geboren worden. Er sei zwischendurch eineinhalb Jahre Hartz-IV-Empfänger gewesen. Letztendlich habe er zusammen mit einem Bekannten einen eigenen Betrieb (Laserschweißen) aufgebaut und betrieben. Mit der Mutter seiner Töchter sei er neun Jahren zusammen gewesen, dann habe man sich getrennt, die Kinder seien bei ihr geblieben. Seit 2019 sei er in einer neuen Beziehung. Bei seiner aktuellen Freundin könnte er auch nach seiner Haftentlassung wohnen. Er würde dann versuchen, in seinen alten Job zurückzukehren. Nach der Verhaftung habe ihn sein Kollege gebeten, aus dem Betrieb auszusteigen, was er auch getan habe. Die ihm ausgezahlten 30.000 Euro habe er an seine Eltern gegeben, um sein Darlehen zurückzuzahlen.

Zur Sache wolle er „heute“ nichts aussagen, so B. Beim VR stößt das auf Unverständnis: „Sie hätten eigentlich am ehesten Grund, sich zu äußern.“ [Schließlich ist B. der einzige Angeklagte, der nicht beim zentralen Planungstreffen der „Gruppe S“ in Minden war.] Die GBA fordert, dass der Haftbefehl weiter aufrecht zu erhalten sei, solange B. nicht zur Sache aussagt. RA Mandic ist da anderer Meinung. B. habe glaubhaft seine persönlichen Verhältnisse offengelegt. Es bestehe keine Fluchtgefahr, zumal B. auch sehr an seinen Kindern hänge. Zudem sei der Tatvorwurf ja nur noch „Unterstützung“, es sei also nicht von einer hohen Strafe auszugehen. Daher beantragt die Verteidigung, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen.

Letztendlich ergeht der vom VR verkündete Beschluss, dass der Haftbefehl gegen B. außer Vollzug gesetzt wird. B. müsse sich aber wöchentlich beim Polizeirevier Kirchheim unter Teck melden. Sollte B. gegen die Auflagen verstoßen, könne der Haftbefehl wieder aktiviert werden.

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