Prozesstag 32: Paul-Ludwig U.: „Dramatisierend, theatralisch, manipulativ“

Am 32. Prozesstag gegen die rechtsterroristische „Gruppe S“, dem 28. September 2021, befasste sich das Gericht mit der Psyche des Angeklagten Paul-Ludwig U. Dafür war Dr. Sabine D. als Zeugin geladen, die 2003 Psychiaterin von U. war und ein Gutachten verfasste, das ihm eine Borderline-Störung bescheinigte. U.s Aussagen sind zentral für die Ermittlungen und Anklage gegen die „Gruppe S“. Daher könnten die Erinnerungen der Zeugin an ihren damaligen Patienten – dramatisierend, theatralisch und manipulativ – relevant für den weiteren Prozessverlauf sein.

Eingangs verkündet der Vorsitzende Richter (VR) das Programm für die kommenden Wochen.

Geladen seien bis Jahresende vor allem Zeug*innen oder Sachverständige und Expert*innen aus dem Umfeld von Paul-Ludwig U. und Werner S. Bezüglich psychologischer Gutachten zu Paul-Ludwig U. kündigt der VR an, problematische Fragen für später zu notieren: Die Ersteller*innen der früheren Gutachten seien als Zeug*innen geladen; für alles weitere hingegen sei der Sachverständige Dr. Winckler zuständig, den man später befrage.

Heute wird als Zeugin Dr. Sabine D. (56) vernommen. Sie, so der VR, habe vor 18 Jahren als Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie Kontakt mit Paul-Ludwig U. gehabt und sich zur Vorbereitung auf den heutigen Prozesstag ihr altes Gutachten über U. durchgelesen. Die Zeugin beginnt damit, ihren beruflichen Werdegang zusammenzufassen: Von 1999 bis 2002 habe sie als Oberärztin in der Abteilung 3 für persönlichkeitsgestörte Patienten und von 2003 bis 2006 als Chefärztin im LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn gearbeitet. [Das Zentrum dient der Diagnostik und Therapie von Straftätern.] Sie habe 2001 in als kommissarische Leiterin der Abteilung 1 angefangen und diese 2002 bis 2006 geleitet. Im Jahr 2006 sei die Abteilung 1 im Zuge einer Umorganisierung aufgelöst worden. Später habe sie eine Privatpraxis in Lippstadt gehabt. Seit April 2021 sei sie in der neurologischen Abteilung einer Reha-Klinik beschäftigt. Frau D. weist darauf hin, dass sie den Sachverständigen Winckler kenne.

„Sie können sich warm anziehen“

Danach geht sie genauer auf ihre Erinnerungen an ihren Patienten Paul-Ludwig U. ein. Im September 2003 habe sie über ihn ein Gutachten erstellt. Damals habe sie bereits in 20 bis 30 anderen Fällen Erfahrungen mit Gutachten gesammelt. In U.s Fall sei sie eher behandelnd als Gutachterin gewesen.

Die Zeugin berichtet, dass sich Paul-Ludwig U. im Januar 2019 noch einmal telefonisch an sie gewendet und gefragt habe: „Erinnern Sie sich an mich?“ Er habe gesagt, dass sie immer sehr fair zu ihm gewesen sei, aber er werde sie trotzdem verklagen. Er habe zu lange gesessen. Jetzt wolle er alle Gutachter für ihre „Fehlgutachten“ verklagen. Ein neues Gutachten widerspreche den vorigen. Sie solle sich warm anziehen. U. habe vor allem Dr. W. als ungerecht empfunden. Er habe ihr von einem TV-Bericht über ihn erzählt. [Der WDR veröffentlichte einen Beitrag über U.s Entlassung.] D. betont, sie halte es für beachtlich, dass U. sich nach so vielen Jahren persönlich gemeldet habe; das spreche für ein gutes Gedächtnis. U. sei immer ein guter Beobachter gewesen, und sie habe ihn als intelligent eingeschätzt. Sie erinnere sich, dass sie mit ihm bei diesem Telefonat über seine Eigenverantwortung gesprochen. Er habe Sätze aus der Zeit zitieren können, in der sie für ihn zuständig war. Sie finde es erstaunlich, wie sehr ihn die Angelegenheit emotional bewegt habe. Das Telefonat habe D. als zweischneidig empfunden: Zwar sei U. höflich gewesen und habe betont, dass sie stets nett zu ihm gewesen sei und er ihr nichts Böses wolle. Andererseits habe sie den Charakter des Gesprächs als unterschwellig drohend empfunden. Das Telefonat sei eine Machtdemonstration und Kampfansage gewesen. Das habe zu ihrer Erinnerung an U. als Patienten gepasst: Einerseits sei er sympathisch, andererseits „unterschwellig bedrohlich“. Nach dem Telefonat habe sie ein Klageschreiben erwartet, aber nie eines bekommen.

U.: „Dramatisierend, rechthaberisch, ein großes Kind“

Sie berichtet, dass U. eine „schwierige, desaströse Kindheit“ gehabt habe. [U. schilderte seine Lebensgeschichte selbst an den Prozesstagen 7 und 8] In Eickelborn in der Abteilung 1 habe sich U. sein Zimmer persönlich gestaltet. U. sei einer, der es „faustdick hinter den Ohren hat“. Er sei als Patient anstrengend gewesen und habe oft übertrieben, sei „dramatisierend“, „rechthaberisch“ und ein „großes Kind“ gewesen. Andererseits sei er „sympathisch“ gewesen und habe sie mit seiner Geschichte berührt.

Der VR ergänzt, dass U. im Dezember 2000 von der JVA Werl in den Maßregelvollzug nach Eickelborn gekommen sei. Die Zeugin gibt an, dass der Angeklagte ein Jahr lang (vom 30.10.2002 bis November 2003) von ihr betreut worden sei. Im Dezember 2003 sei er von Eickelborn zurück in die JVA Werl verlegt worden. Erst wegen seiner Geiselnahme am 29. Oktober 2002 sei er in die Abteilung 1 gekommen. Die Abteilung 1 sei keine Behandlungs-Abteilung, sondern sei vor allem für die Diagnostik zuständig gewesen.

U. hielt 2005 in der Forensik zwei Geiseln fest

Der VR fragt nach der Geiselnahme in der Forensik. U. habe, so erzählt die Zeugin, am 29. Oktober 2005 mit einem Messer zwei Geiseln genommen, einen Mann und eine Frau, aber dann freiwillig aufgegeben. Sie berichtet, dass er zuvor mit seinen Opfern Umgang gehabt habe. U. habe sich durch Geiselnahme um sein „Zuhause“ gebracht. Später gibt die Zeugin an, U. habe „nicht wirklich“ Verantwortung für die Geiselnahme übernommen, „eher oberflächlich“.

Sie erzählt, dass Paul-Ludwig U. ihr von dem Plan einiger seiner Bekannten berichtet habe, Zahnarzt-Geräte zu stehlen, um sie anschließend zu verkaufen. Sie hätten U. aufgefordert, mitzumachen; man würde ihn notfalls befreien. Ihr sei damals unklar gewesen, ob an dieser Geschichte etwas dran sei. Der VR schließt sich diesen Zweifeln an und überlegt laut, ob dieses Verhalten „auch eine Inszenierung war“, um sich in Mittelpunkt zu setzen. Die Zeugin berichtet, dass U. teilweise Geschichten erzähle, „Sachen sehr ausgeschmückt“ habe und manipuliere. Nach seiner Mitteilung über den angeblichen Diebstahl-Plan habe sie ihm gesagt, dass er jetzt auf eine sicherere Station komme.

Psychiaterin sieht eine „Manipulationstendenz“ bei U.

Die Zeugin erinnert sich an eine „Manipulationstendenz“ bei U. Sie habe sich deswegen entschlossen, nicht mehr lange am Stück mit ihm zu reden, und ihm stattdessen Aufgaben gegeben, wie beispielsweise die Lebensgeschichten zu verschriftlichen. An Beispiele für Manipulationen kann sich die Zeugin nicht mehr erinnern.

Der VR zitiert aus einer Diagnose: U. habe eine „instabile Persönlichkeit“, eine „Borderline-Störung“ und ein „dichotomes Weltbild in Schwarz und Weiß“. Die Befragte gibt an, die wiedergegebene Diagnose sei von einem anderen Behandlungsteam. Der VR zitiert weiter, dass U. sich nicht mehr psychologisch therapieren lassen wolle, sondern es bevorzuge, in eine JVA verlegt zu werden, um dort eine Ausbildung zu beginnen.

Frau D. erzählt von ihrem Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft Paderborn anlässlich der Geiselnahme vom 29. Oktober 2002. Für das Gutachten habe sie sich fünf bis zehn Mal mit U. zu Gesprächen getroffen. Hinzu kämen Verlaufsbeobachtungen bei Pflege, Sport etc. seit dem 10. Dezember 2001. Am Anfang habe sie den Eindruck gehabt, dass U. „nicht so gerne mit mir sprechen wollte“.

U. hatte laut Zeugin eine „Neigung zur theatralischen Darstellung im Gespräch“

Der VR zitiert aus einem Text der Zeugin: U. erscheine leger gekleidet, sei kooperativ und „deutlich bemüht, sich darzustellen“. Die Zeugin bestätigt das und ergänzt, er habe auch etwas „Verschmitztes“ gehabt. Er habe versucht, sich mit einer Fülle von Informationen interessant zu machen. Der VR zitiert weiter: „Neigung zur theatralischen Darstellung im Gespräch.“ Die Zeugin ergänzt, U. habe „umgangssprachlich aus der Mücke einen Elefanten“ gemacht.

Der VR referiert die Biografie von Paul-Ludwig U, wie die Zeugin D. sie damals basierend auf U.s Angaben aufgeschrieben hatte. U. sei bei seinen Großeltern aufgewachsen, die er bis zum Alter von acht Jahren für seine Eltern gehalten habe. Dann sei er durch einen älteren Bekannten missbraucht worden. Mit 12 Jahren habe er einen Suizid-Versuch unternommen. U. habe viel Zeit erst in Kinder- und Jugendpsychiatrien und dann in Erwachsenenpsychiatrien verbracht, ebenso ab 1992 in Strafanstalten. Dazwischen sei er im betreuten Wohnen untergebracht gewesen. Der VR weist darauf hin, dass Behörden die Angaben überprüft hätten, und diese „nicht ganz richtig“ seien. Weiter referiert der VR den Bildungsweg von Paul-Ludwig U. Am Ende steht ein Hauptschulabschluss in der JVA. Der VR fragt Dr. Sabine D., wie sie U.s Intelligenz einschätze. Die Zeugin antwortet, eine Vortestung habe U. einen IQ von 118 bescheinigt. Das sei „durchschnittlich bis leicht überdurchschnittlich“.

Alkohol- und Drogenkonsum seit der Kindheit

Zum Thema Drogen berichtet die Zeugin, dass U. mit 13 Jahren angefangen habe, Bier zu trinken. Bis zum 20. Lebensjahr habe er drei Alkoholvergiftungen erlitten, zweimal habe er wiederbelebt werden müssen. Vom 15. bis zum 18. Lebensjahr habe er an drei bis vier Tagen die Woche getrunken. Später habe er Kokain, Haschisch und Speed konsumiert.

Der VR zitiert verbale Hasstiraden von U. auf pädophile Mitgefangene. Die Zeugin bestätigt das. U. sei polarisierend gewesen. Es sei zu Konflikten mit anderen Patienten gekommen, insbesondere mit pädophilen Tätern.

Auf die Frage des VR, wie U. versucht habe, Aufmerksamkeit zu erlangen, antwortet die Zeugin, er habe sie sehr in Beschlag genommen. Sie habe den Eindruck gehabt, dass es „ihm wichtig ist, dass man ihn für einen gefährlichen Menschen hält“. Er sei „wie ein anerkennungsheischendes Kind“, habe „schnell umschalten und beleidigend werden“ können, „auch aggressiv“. Aber ohne Drohungen oder eine körperlich-bedrohliche Haltung.

Wie entstand die Borderline-Diagnose?

Der VR verliest einen Bericht über Probleme mit Behandlern und Schübe bis hin zu Tötungsfantasien. Die Zeugin bestätigt das. Gefragt nach depressiven Tendenzen berichtet die Zeugin, dass U. ihr „starke Rückzugstendenzen“ geschildert und „depressive Nachschwankungen“ gehabt habe. Es habe auch einen Übergriff auf Mitpatient*innen gegeben; darauf geht die Zeugin allerdings nicht genauer ein.

Anschließend fragt der VR, auf welcher Grundlage die Zeugin bei U. eine Borderline-Störung diagnostiziert habe. Diese erwidert, sie habe dessen Verhalten beobachtet und sein Leben ab der Kindheit einbezogen. Wichtig für diese Diagnose seien suizidale Krisen, Impulsstörungen bei Delikten und starke Erregbarkeit bei Kränkungen. Außerdem hätten U.s psychosoziales Umfeld und sexuelle Gewalterfahrungen eine Rolle gespielt. Daraus resultiere seine emotionale Instabilität in Beziehungen. Er habe versucht, diese Instabilität mit Alkohol und Drogen zu „behandeln“. Auch das sei typisch für Borderliner. Sie habe in einer Vordiagnostik auch einer hyperkinetische Störung [ADHS] erwogen. Ihre Kollegen hätten bei U. zusätzlich eine dissoziale Persönlichkeit festgestellt. Ob sie auch eine histrionische Persönlichkeitsstörung erwogen habe, fragt der VR. [Betroffene sind typischerweise egozentrisch und manipulativ, streben nach Beachtung und überdramatisieren.] Die Zeugin antwortet mit „Jein“, U. habe starke narzisstische und histrionische Anteile aufgewiesen.

Nach dem VR darf der Sachverständige Dr. Peter Winckler Fragen an die Zeugin stellen. Er fragt: „Hatten Sie den Eindruck, dass U. sich gerne begutachten ließ?“ Die Zeugin antwortet: „Zum Teil schon.“ Dr. Winckler fragt, wie U. auf das Gutachten reagiert habe. Das wisse sie nicht mehr, so die Zeugin. Aufgefordert, anzugeben, für wie sicher sie sich heute ihrer Borderline-Diagnose von damals sei, antwortet die Zeugin mit „sechs bis sieben“ von zehn möglichen Punkten. Der Sachverständige hakt nach: „Also relativ sicher?“ Sie antwortet mit „Ja“.

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