Prozesstag 19: Paul-Ludwig U.s Suche nach Anerkennung

Am 19. Prozesstag, dem 21. Juli 2021, sagte erneut die Zeugin Nadja Sch. aus, die bereits am 16. Prozesstag befragt worden war. Sie war Bewährungshelferin und Führungsaufsicht des Angeklagten Paul-Ludwig U., nachdem dieser von Nordrhein-Westfalen nach Mosbach (Neckar-Odenwald-Kreis) gezogen war. Beim ersten Termin vor Gericht wurde Frau Sch. durch den Senat ausführlich befragt. Am 21. Juli erhielten auch die anderen Verfahrensbeteiligten diese Möglichkeit.

Den Auftakt macht die Oberstaatsanwältin bei der Bundesanwaltschaft (OStA) Bellay. Sie greift eine Formulierung der Zeugin auf, der Angeklagte Paul-Ludwig U. habe „der Gesellschaft geschadet“. Sie erkundigt sich nach der Bedeutung dieser Aussage. Die Zeugin führt aus, dass sie die Proband*innen anhand des Schädigungspotenzials einschätze. Hierbei spiele eine Rolle, aus welchem Motiv heraus eine Tat begangen worden sei, beispielsweise ob die Tat mit der Persönlichkeit des Probanden erklärt werden könne.

Auf eine später erfolgte Nachfrage der Rechtsanwältin (RAin) Rueber-Unkelbach, welche Parameter zur Einstufung als „gefährlich“ führen würden, antwortet Frau Sch., es gebe keine Checkliste. Die Entscheidung darüber treffe die Bewährungshilfe. Allgemein würden Sexualstraftäter in dieser Kategorie geführt. Zudem spielten Gewaltneigung und Eskalationspotenzial eine Rolle. Bei U. habe die Geiselnahme von professionellem Personal in Haft eine Rolle gespielt [U. war wegen einer zweiten Geiselnahme in der forensischen Psychiatrie Lippstadt-Eickelborn erneut verurteilt worden]. Auf Nachfrage von RAin Rueber-Unkelbach bestätigt die Zeugin, dass sie U. hinsichtlich der Begehung von Straftaten als rückfallgefährdet einschätze.

Der Angeklagte lege die Sachen so aus, wie sie für ihn passen würden

Im Folgenden interessiert sich OStA Bellay für das Verhältnis von Frau Sch. zu U. OStA Bellay fragt nach, warum U. selbst in Aachen wegen des Beschlusses zum Alkohol- und Drogenscreenings habe anrufen müssen. Dies sei untypisch, da die Proband*innen das Aktenzeichen in der Regel nicht kennen würden. Frau Sch. sieht darin kein Problem, wenn Proband*innen das in ihrer Anwesenheit erledigen würden. Die OStA erinnert daran, dass dieser Vorgang als Beispiel für das manipulative Verhalten von U. herangezogen worden sei. Dem entgegnet die Zeugin, dass dies kein Beispiel für ein manipulatives Verhalten des Angeklagten sei, sondern dafür, wie er Sachen durcheinanderbringe.

OStA Maslow fragt nach einem Beispiel für die Aussage, dass U. sich die Sachen so gedreht habe, dass es für ihn passe. Die Zeugin Sch. greift als Beispiel die Geschichte eines Schwimmbadkiosks auf, den U. habe betreiben wollen. U. lege sich die Tatsachen so aus, wie er es brauche beziehungsweise um sich nicht zu überfordern. Auch bei Terminen sei er unzuverlässig.

Mit den Mitteln der Bewährungshilfe konnte ich Herrn U. nicht mehr erreichen“

Das schwierige Verhältnis von Nadja Sch. zu U. spielte an mehreren Stellen der Befragung eine Rolle. Schon bei der Befragung von U.s erstem Bewährungshelfer, Jens W. aus Aachen am 14. und 15. Prozesstag und in ihrer Befragung durch den Vorsitzenden Richter (VR) war der Konflikt greifbar gewesen. OStA Gößl will wissen, wie oft es passiere, dass man Proband*innen mit den bekannten Methoden nicht mehr erreiche. Laut der Zeugin gehört Derartiges zum täglichen Geschäft.

Auch Tony E.s Rechtsanwalt (RA) Hofstätter greift diese mehrfach getätigte Äußerung der Zeugin aus ihrer ersten Befragung vor dem Oberlandesgericht auf. Frau Sch. habe gesagt: „Mit den Mitteln der Bewährungshilfe konnte ich Herrn U. nicht mehr erreichen.“ Sie habe dessen Tiraden dann einfach über sich ergehen lassen. Die Frage von RA Hofstätter, ob dies in der Bewährungshilfe üblich sei, bejaht sie. Man ziehe sich dann etwas zurück und fokussiere sich mehr auf die Proband*innen, die zur Zusammenarbeit bereit seien. U. habe eine Bühne erhalten. Wenn man ihm diese entzogen habe, sei er aggressiv geworden. Er habe dann Worttiraden losgelassen, bei denen man kaum habe eingreifen können.

Auf Frage von RAin Rueber-Unkelbach erläutert Nadja Sch., dass es häufiger solche Situationen gegeben habe, in denen U. „cholerisch“ geworden sei. Sie könne sich nicht erklären, warum. Einmal habe sie ihm gesagt, er verhalte sich wie ihr kleines Kind. Danach habe sich die Stimmung gewandelt. U. sei weinerlich geworden, habe sich entschuldigt und Probleme mit der Justiz angeführt. Ab dann sei ein Gespräch wieder möglich gewesen. Die Frage von Wolfgang W.s Verteidiger RA Grassl, ob sich Sch. von U. während ihrer Arbeit bedroht gefühlt habe, verneint die Zeugin. Sie verweist aber darauf, dass sie ihn als gefährlich eingeschätzt habe.

Konflikt unter Kolleg*innen

Ein konflikthaftes Verhältnis schildert die Zeugin Sch. nicht nur mit Blick auf U., sondern auch bezüglich ihres Kollegen Jens W. aus Aachen. Dieser hatte U. bis zum November 2017 betreut und den Fall mit U.s Wegzug nach Mosbach an Frau Sch. abgegeben, hatte jedoch weiterhin Kontakt zu ihm.

Nadja Sch. habe vor Gericht gesagt, sie sei sich nicht so ganz sicher gewesen, auf welcher Seite Herr W. stehe, so OStA Gößl. Sie möchte von der Zeugin wissen, wie das zu verstehen sei. Nadja Sch. sieht die professionelle Distanz zwischen Jens W. und Paul-Ludwig U. nicht mehr gegeben. U. habe stundenlang im Büro von W. gesessen und über die Inhalte ihrer Telefonate mit Herrn W. wenige Tage später Wort für Wort Bescheid gewusst. Auf den Einwand von OStA Gößl, dass dies etwas anderes sei, als auf der anderen Seite zu stehen, lenkt Frau Sch. ein. Der Ausdruck sei vielleicht nicht ganz zutreffend. Sie finde das Verhalten jedoch kontraproduktiv. Wenn ein Proband wegziehen würde, dann hake man ihn ab. Die Frage von RA Grassl, ob man bei U. und W. von einer Freundschaft sprechen könne, verneint sie.

Unterschiedliche Aktenführung stößt auf

Frau Sch. weist an mehreren Stellen darauf hin, dass die Akte des Probanden U. unsortiert bei ihr angekommen sei. RAin Rueber-Unkelbach weist die Zeugin darauf hin, dass Herr W. nach der Übergabe der Probandenakte an sie eine zweite Akte angelegt habe. Frau Sch. zeigt sich darüber irritiert. Ihrer Meinung nach dürfe es keine Zweitakte geben. Sie wisse zwar nicht, wie das rechtlich zu werten sei, in Baden-Württemberg werde dies jedoch einheitlich so gehandhabt.

Michael B.s Verteidiger RA Berthold möchte von der Zeugin wissen, ob sie gegenüber Herrn W. dessen Verhalten im Betreuungsfall U. problematisiert habe. Sie habe Herrn W. gesagt, dass sie das nicht normal finde, wenn ein Bewährungshelfer nach dem Betreuungsverhältnis so einen intensiven Kontakt pflege, erwidert Sch. Jens W. habe daraufhin das Telefonat beendet.

Selfies aus dem Zeugenschutz

RA Abouzeid, Verteidiger von Stefan K., erkundigt sich nach dem Kontakt der Zeugin zu U. seit dem Auffliegen der Gruppe im Februar 2020. Diese erklärt, U. habe sich telefonisch bei ihr gemeldet und gesagt, er sei gut aufgehoben und werde sich nicht weiter melden. Dann habe sich ein Herr Sch. vom LKA bei ihr gemeldet und gesagt, dass U. nun über ihn zu erreichen sei. U. habe sich dann aber dennoch bei ihr gemeldet, weil er geglaubt habe, das wegen seiner Führungsaufsicht tun zu müssen. Am 28. April 2020 sei ihre Führungsaufsicht schließlich abgelaufen. U. habe aber unter falschem Namen Bilder von sich gesendet, die ihn bei Waldarbeiten gezeigt hätten. Den falschen Namen habe er in Absprache mit dem LKA verwendet. Das LKA habe ihm aber Ende 2020 oder Anfang 2021 den Kontakt zu ihr untersagt. Mitte Mai hätten sie das letzte Mal telefonisch Kontakt miteinander gehabt. Die Frage von RA Abouzeid, ob U. über Prozessinhalte gesprochen habe, verneint die Zeugin. Er habe jedoch gesagt, dass er auf dem Flur des Gerichts von den Mitangeklagten bedroht und beleidigt werde, das allerdings nicht näher ausgeführt. [Auf der Bank der Angeklagten bricht Gelächter aus.]

Er konnte nicht den Mund halten“

RA Just, Verteidiger von Stefan K., geht auf den Punkt ein, dass nach Aussage von Frau Sch. der Angeklagte U. seine früheren Straftaten weder beschönigt noch kleingeredet habe. Er möchte wissen, ob dies echte Reue und Einsicht gewesen seien oder nur Lippenbekenntnisse. Nadja Sch. schätzt, dabei handle es sich um Randschauplätze. U. habe weniger über die Taten an sich oder seine Verantwortung dafür gesprochen.

Die Frage von RA Just, ob U. auch das Thema Zeugenschutz angesprochen habe, bejaht die Zeugin. Das Thema Zeugenschutz sei sehr früh aufgekommen. U. habe auch darauf verwiesen, dass das streng geheim sei, sich aber selbst nicht daran gehalten. „Er konnte nicht den Mund halten“, so die Zeugin.

Der RA schließt mit der Frage an, ob Frau Sch. von U. den Eindruck gehabt habe, dass der Zeugenschutz sein eigentliches Ziel gewesen sei. Sch. sagt, U. habe den Zeugenschutz als ein gutes Ziel gesehen, „um Paul hinter sich lassen“ zu können. Auf die Nachfrage von Markus K.s Verteidigerin RAin Schwaben, was die Motive U.s für seine Berichte über den geheimen Zeugenschutz seien, muss die Zeugin passen. Sie wisse nicht, warum er das gemacht habe. Aber er habe eben ein Bedürfnis, viel zu erzählen.

Auf die Frage von Tony E.s Verteidiger RA Becker, ob sie den Verfahrensbeteiligten ihre Klientendokumentation zur Verfügung stellen würde, weist Frau Sch. darauf hin, dass sie das zunächst mit ihrem Datenschutzbeauftragten klären wolle.

Fragen nach der finanziellen Situation von U.

RAin Schwaben erkundigt sich nach finanziellen Hilfsmöglichkeiten für Proband*innen in Not. Frau Sch. erklärt, dass diese vom „Bezirksverein für soziale Rechtspflege“ bis zu 500 Euro pro Jahr bekommen könnten. Das Geld müsse aber für 400 Klient*innen reichen, sodass nur selten und in kleinen Beträgen Geld ausgeschüttet werde. Zudem werde die Bedürftigkeit streng geprüft. U. sei einmal zu ihr gekommen und habe nach Geld gefragt. Nachdem sie ihm eine Absage erteilt habe, habe er nicht erneut um Unterstützung gebeten. Auch nicht, nachdem er Opfer eines Trickbetrugs im Internet geworden sei. Diesen Betrug habe er bei der Polizei zur Anzeige gebracht, die ihm – nach seiner Aussage – dafür dankbar gewesen sei. Er habe zudem seine Konten sperren lassen. Geld habe er jedoch von ihr nicht mehr gefordert.

RA Flintrop, Verteidiger von Steffen B., möchte wissen, ob U. von einer finanziellen Unterstützung durch das LKA gesprochen habe. Dies habe er nicht erwähnt, so die Zeugin. Der Mitarbeiter K. aus U.s Unterkunft in Mosbach habe jedoch die Sorge geäußert, dass man nicht mehr wisse, wie man ihn finanziell durch den Monat bringen könne. U. habe viel Geld für Fahrkarten ausgegeben. [Es wurde im Prozess erwähnt, dass U. sich darum bemüht habe, den Kiosk im Wohnort seiner Schwester zu pachten. Dies sei jedoch vom Gemeinderat abgelehnt worden, nachdem der Bürgermeister über dessen Vorgeschichte informiert habe.]

Auch RA Hofstätter greift die finanziellen Lebensumstände von Paul-Ludwig U. auf. Frau Sch. habe in ihrer ersten Befragung vor Gericht geäußert, U. sei nach eigener Aussage „rundum versorgt“ gewesen. Die Zeugin korrigiert den Verteidiger. U. habe das nicht selbst gesagt, sondern sie habe das aus den Berichten von U. geschlossen. Darum habe sich Herr Sch. vom LKA gekümmert. Auf die Nachfrage von RA Hofstätter teilt sie die Kontaktadresse von Herrn Sch. [ein anderer Sch. als der LKA-Beamte] aus dem Zeugenschutz des LKA Baden-Württemberg mit. U. reicht derweil im Gerichtssaal einen Zettel an seine Verteidiger, auf dem steht: „Das sollte nicht passieren.“

Frank H.s Verteidiger RA Herzogenrath-Amelung fragt die Zeugin, ob U. sich etwas vom Prozess versprochen und ob er über Geldvorteile gesprochen habe. Sie wisse nicht, ob er sich etwas vom Prozess verspreche oder versprochen habe, so Frau Sch.

Wird Paul-Ludwig U. gedeckt?

Die Verteidiger*innen der anderen Angeklagten versuchen nun, von Frau Sch. mehr Informationen über das Verhältnis zwischen Paul-Ludwig U. und den Ermittlungsbehörden zu bekommen. Auf Frage von RA Grassl berichtet die Zeugin, dass U. oft den Namen von Frau Zacharias von der Bundesanwaltschaft genannt, jedoch keine weiteren Personen aus dieser Behörde erwähnt habe. Ob U. mit ihr in persönlichem Kontakt gestanden habe, könne sie nicht sagen. Auf Frage von RA Flintrop bestätigt die Zeugin, dass der Name Zacharias in Zusammenhang mit dem Vorfall am Heidelberger Bahnhof gefallen sei [U. wurde in Heidelberg von der Polizei mit einer CO2-Waffe aufgegriffen]. U. habe gesagt, man werde das für ihn regeln, und dabei auch den Namen Zacharias erwähnt.

Sie sei vom LG Aachen gebeten worden, so die Zeugin, mit dem Staatsschutz Kontakt aufzunehmen. Man habe überprüfen wollen, ob die Angaben von U. stimmen. Es sei um einen Bewährungswiderruf gegangen. U. habe ihrer Meinung nach den Eindruck erweckt, dass er gedeckt werde. Angst vor einem Widerruf habe er nicht gehabt. Auf die Frage von RAin Rueber-Unkelbach, ob sie das hinterfragt habe, antwortet Bewährungshelferin Sch., dass sie sich hierzu in ihrem Haus mit einem Experten zum Thema Extremismus besprochen habe, da sie sich selbst nicht so gut mit dem Thema auskenne. Der Experte habe gesagt, es könne durchaus sein, dass U. geschützt werde.

Bei U. wurden jugendpornografisches Material gefunden

Es habe Anfang 2021 eine Telefonkonferenz mit dem Landgericht Aachen, Herrn Sch. vom Zeugenschutz des LKA und ihr gegeben. Sie hätten darüber gesprochen, ob man U.s ehrenamtliche Tätigkeit für das Rote Kreuz in einem Corona-Testzentrum untersagen könne. Hintergrund sei jugendpornografisches Material gewesen, das man bei der Durchsuchung von U.s Handy am 14. Februar 2020 gefunden habe.

Nadja Sch. erklärt, dass es dazu ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Mosbach gegeben habe. Dies sei jedoch eingestellt worden. Aufgrund des Fundes habe U. ein Kontaktverbot im Umgang mit Jugendlichen auferlegt bekommen. Der Richter vom Landgericht Aachen habe für die Untersagung der ehrenamtlichen Tätigkeit im Corona-Testzentrum eine schriftliche Anfrage gestellt. Was am Ende dabei herausgekommen ist, wisse sie jedoch nicht. Mit U. habe sie nicht mehr über den Fund sprechen können, denn seine Akte sei seit dem 14. Februar 2020 nicht mehr weiter von ihr bearbeitet worden.

Der Angeklagte U. und das Thema Alkohol

Am 10. Oktober 2018 legte das Landgericht Aachen U. ein Alkoholverbot auf. RAin Schwaben hält Frau Sch. diesbezüglich eine Aussage U.s vor. Zuerst habe U. gesagt, es gebe den Beschluss nicht. Später habe er behauptet, der Beschluss sei falsch. Die Zeugin erklärt, von Jens W. habe sie erfahren, dass U. diesen Beschluss selbst angeregt habe. Paul-Ludwig U. sei immer wieder zu Drogenscreenings vorstellig geworden. Dabei habe es Auffälligkeiten beim Thema Alkohol gegeben. Darauf habe das Landgericht Aachen aber nicht reagiert.

RAin Rueber-Unkelbach interessiert sich dafür, ob Paul-Ludwig U. in der Lage sei, ein eigenständiges Leben ohne Straftaten zu führen. Sch. sagt aus, dass ihr U. aus Aachen so angekündigt worden sei. Ihrer Einschätzung nach brauche U. jedoch Hilfe bei der Gestaltung des Alltags. RAin Rueber-Unkelbach fragt nach, ob die Unsicherheit bei alltäglichen Dingen dazu führen könne, dass U. wieder Straftaten begehe. Frau Sch. sagt aus, dass sie das so pauschal nicht sagen könne. Auf Nachfragen von RAin Rueber-Unkelbach hin sieht sie U. als affektlabil an, mit einer niedrigen Frustrationstoleranz. Auf einer Skala von eins bis zehn zur Anerkennung sozialer Normen verortet sie U. bei vier.

Einschätzung der Zeugin zur Psyche des Angeklagten

Wie in den letzten Prozesstagen, in denen es um U. ging, spielt auch heute seine psychische Verfasstheit vor Gericht eine Rolle. Frau Sch. habe bei ihrer ersten Befragung vor dem OLG ausgesagt, dass sie U. eine Verhaltenstherapie nahelegen würde, so OStA Bellay. Sie interessiert sich dafür, ob die Zeugin eine therapeutische Ausbildung habe und ob sie bei U. psychische Auffälligkeiten bemerkt habe. Die Zeugin erwidert, sie verfüge nicht über eine entsprechende Ausbildung. Sie habe zwar psychische Auffälligkeiten festgestellt, jedoch nicht im Sinne einer Diagnose. RA Picker, Verteidiger von Marcel W., verweist auf die Polizeivernehmung, in der Nadja Sch. angegeben habe, eine Ausbildung als Sozialarbeiterin in einem psychiatrischen Zentrum absolviert zu haben. Die Zeugin bestätigt die Angabe. Sie habe während ihrer Tätigkeit unter anderem Sozialanamnesen durchgeführt.

Auch Michael B.s Verteidiger RA Mandic eruiert die psychische Verfasstheit des Angeklagten aus der Sicht der Zeugin. Sie habe U. mit einem instabilen Selbstbild und einem impulsiven, aber nicht selbstschädigenden Verhalten beschrieben. Während sie Fragen nach emotionaler Instabilität, Wutausbrüchen und Äußerungen eines Gefühls von Leere mit „Ja“ beantwortet habe, verneine sie Auffälligkeiten im Bindungsverhalten oder ein Minderwertigkeitsgefühl.

RA Berthold greift eine Aussage der Zeugin auf, in der diese gesagt habe, U. habe mit ihr nicht über seine Sorgen und Ängste gesprochen. Der RA fragt die Zeugin, ob U. keine Sorgen und Ängste gehabt oder ob er diese verdrängt habe. Frau Sch. fällt es schwer, das einzuschätzen. Wenn U. Sorgen geäußert habe, dann sei es um weltliche Dinge gegangen, etwa ein leerer Kühlschrank. Auf RA Bertholds Nachfrage, ob U. Sorgen vor einer „Islamisierung“ oder Geflüchteten geäußert habe, entgegnet die Zeugin, dass von einer „Islamisierung“ keine Rede gewesen sei. Über Geflüchtete, die U. auch mal als „Merkels Gäste“ bezeichnet habe, habe er durchaus die Sorge geäußert, dass der deutsche Staat diese ja versorgen müsse.

Sie erinnern mich an Claudia Roth“

Als RA Picker bei der Befragung der Zeugin an der Reihe ist, möchte er unter anderem von ihr wissen, ob U. in Gesprächen politisiert habe. Die Zeugin greift als Beispiel eine Situation auf, in der U. zu ihr gesagt habe: „Sie erinnern mich an Claudia Roth.“ Als RA Picker dieses Beispiel damit kommentiert, dass das ja fast schon eine Beleidigung sei, handelt er sich eine Rüge des VR ein. „Das ist unter Ihrem Niveau“, ermahnt ihn der VR. Thorsten W.s Verteidiger RA Hörtling möchte genauer wissen, warum U. diese Bezeichnung verwendet habe. Frau Sch. verweist auf die schwierige Arbeitsbeziehung zwischen ihr und dem Probanden U. Wenn sie es mit Humor oder Sarkasmus versucht habe, dann habe sie U. erreichen können. Sie habe die Äußerung mehr als Scherz von U. verstanden, nicht als abwertende Äußerung.

Marcel W.s Verteidiger RA Miksch greift einen Punkt aus der ersten Befragung der Zeugin vor dem OLG auf. Bereits am 6. Mai 2019 sei U. seiner Bewährungshelferin Sch. mit rechtsradikalen Äußerungen auf Facebook aufgefallen. Ob er da schon von Anschlagsplänen gesprochen habe, fragt er. Sie habe das zu diesem Zeitpunkt nicht richtig einordnen können, führt die Zeugin aus. U. habe von vielen spektakulären Sachen erzählt. Sie habe da nicht nachgehakt.

Auf der Suche nach Anerkennung mit spektakulären Geschichten?

Sch. erzählt, sie würde U.s Äußerungen nicht als Lügen bezeichnen; eher könne er Dinge nicht richtig einordnen, er übertreibe und erzähle spektakuläre Dinge. U. sei in seinen Aussagen sehr absolut gewesen, beispielsweise wenn er die Gemeinde wegen des Datenschutzes verklagen wolle oder einen Zahnarzt wegen einer vermeintlich falschen Behandlung. Sie habe das als unangemessen drastisch empfunden.

RA Picker möchte mehr darüber wissen, auf welche Weise U. Anerkennung habe erlangen wollen, und ob er bereit gewesen sei, dafür zu unlauteren Mitteln zu greifen. Sch. schildert, dass U. es wichtig gefunden habe, darzustellen, dass ihn andere Menschen – wie beispielsweise aus seinem Wohnheim, der Moschee oder der Polizei – wertschätzen würden, wenn nicht sogar von ihm begeistert seien. Sie interpretiert das als ein Zeichen dafür, dass er Wertschätzung suche. Ob er auch bereit sei, unlautere Mittel dafür einzusetzen, könne sie nicht sagen. RA Pickers Frage, ob U. schauspielerische Fähigkeiten eingesetzt habe, um Anerkennung zu bekommen oder sich durch Rollenspiele auszeichne, verneint die Zeugin. Sie gibt aber zu bedenken, dass sie ihn vor allem im Büro wahrgenommen habe; von dem, was außerhalb gelaufen sei, habe sie keine Ahnung.

Das Verhältnis zu Ermittlungsbehörden

Werner S.‘ Verteidiger RA Siebers geht in seiner Befragung näher auf U.s Verhältnis zur Polizei ein, hält der Zeugin aber zunächst ein Zitat vor, demnach U. gesagt haben soll, er sei ein „Seismograf“ und habe einen IQ von 130. Die Zeugin kann sich nicht erklären, woher er diesen Wert habe. U. habe das nicht weiter ausgeführt. Anschließend fragt RA Siebers nach einer Chatgruppe mit Polizisten, in der U. aktiv gewesen sein soll. Frau Sch. konkretisiert, dass es sich um die Facebook-Gruppe „Polizist = Mensch“ handle.

RA Siebers fragt des Weiteren nach dem Verhältnis zu Ermittlungsbehörden und zu Frau Zacharias von der Generalbundesanwaltschaft. Frau Sch. erwidert, U. habe darüber nicht mit ihr gesprochen.

RA Herzogenrath-Amelung erfragt die Kontaktmöglichkeiten zu U. Welche E-Mail-Adressen er verwendet habe? Und habe er über mehrere Mobiltelefone verfügt? Der Zeugin fällt neben der Adresse im Zeugenschutz eine weitere Adresse ein. Sie könne aber nicht sagen, ob U. mehrere Mobiltelefone gehabt habe.

Die Verteidigung sieht sich durch Frau Sch. bestätigt

Anschließend wird Nadja Sch. unvereidigt entlassen. Die Verteidiger*innen, die Erklärungen abgeben [die Verteidigung des Angeklagten U. äußert sich nicht], sehen die Zeugin als sehr glaubwürdig an. Die Anwälte Miksch und Berthold vermuten, U. habe den Zeugen Jens W. manipuliert. RA Grassl hält fest, dass sich aus seiner Perspektive der Zeuge W. schützend vor U. gestellt habe.

RA Picker äußert Zweifel an der Anklageschrift. Die Befragung der Zeugin habe ein wesentlich breiteres Charakterbild von U. geliefert, als es die Anklageschrift hergebe. Es ergebe daher Sinn, weitere Zeugen einzuladen, um Ungereimtheiten auszuräumen. RA Berthold und RA Hörtling sehen in U. einen in der Pubertät Stehengebliebenen. „Er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt“, fasst RA Hörtling seinen Eindruck von U. zusammen.

Für RA Miksch ist der wesentliche Punkt der heutigen Befragung, dass sich U. bereits im Mai 2019 rechtsradikalen Gruppen angeschlossen und von Terrorplänen gesprochen habe, also noch vor den Treffen an der Hummelgautsche im September 2019 und in Minden im Februar 2020.

Krimineller, V-Mann, Agent Provocateur? Was ist Paul-Ludwig U.s Rolle?

RA Hofstätter vermutet, U. habe sich vom Kriminellen zum V-Mann entwickelt. Er habe eine Rolle gespielt und seine Methode perfektioniert. In seinen Augen ist U. ein „Agent Provocateur“. Daher beantragt er, den für U.s Zeugenschutz zuständigen Beamten Kriminalhauptkommissar Sch. als Zeuge zu laden, um herauszufinden, ob U. nicht nur eine Rolle gespielt habe, sondern vielmehr bezahlter informeller Mitarbeiter des LKA Baden-Württemberg sei.

Außerdem beantragt er, die beiden Angestellten des „Bezirksvereins für soziale Rechtspflege“, Herrn K. und Frau B., vor Gericht zu befragen. In der Befragung von Frau Sch. sei deutlich geworden, dass U. die beiden für Taxidienste eingespannt habe und ihnen gegenüber fordernd aufgetreten sei.

Während die Vertreterinnen der Bundesanwaltschaft in der Vernehmung des Zeugen Sch. keinen Sinn erkennen können, da dieser nichts zur verhandelten Sache beitragen könne, schließen sich mehrere Verteidiger dem Antrag von RA Hofstätter auf Vernehmung von Sch. an.

Prüfung der Haftgründe und Ersetzung von Haftbefehlen

Mit Verweis auf die Strafprozessordnung kündigt der VR an, dass es Zeit sei, die bestehenden Haftbefehle von Tony E., Thomas N., Werner S., Thorsten W., Wolfgang W. und Stefan K. am kommenden Montag, 26. Juli 2021, zu prüfen. Er bittet die Verteidigung, zur Eröffnung am 28. Juli 2021 zu erscheinen. Die Verhandlung werde am kommenden Dienstag in der Sache Thorsten W. fortgesetzt, am Mittwochnachmittag würden weitere TKÜ-Tonaufnahmen folgen. Über die Sommerpause hinweg werde es für die Verfahrensbeteiligten Unterlagen im Selbstleseverfahren geben.

Gegen Ende dieses Prozesstages bringt RA Flintrop einen weiteren Beweisantrag ein. In der Mittagspause sei es zu einem Zwischenfall gekommen. RA Ried, RA Flintrop und RAin Schwaben hätten in der Mittagspause beisammen gestanden und dabei beobachtet, wie U. in Richtung von RA Miksch laute Selbstgespräche geführt habe. Als RA Miksch gegangen sei, habe U. in Richtung der Dreiergruppe gesagt: „Ihr braucht nicht so blöd zu gucken. Am Ende werdet ihr euch noch wundern.“ Diese Aussage sei, so RA Flintrop, im Kontext von Absprachen des Angeklagten U. mit dem LKA zu sehen, die seiner Meinung nach im Hintergrund getroffen würden. Zu diesem Vorfall wolle er RAin Schwaben als Zeugin vernehmen. Die Vertreterinnen der Anklage sehen eine solche Vernehmung als unnötig an, da weder die Schuld- noch die Straffrage des Prozesses berührt sei. Mehrere Anwält*innen schließen sich dem Antrag von RA Flintrop an. Das Gericht werde die Beweisanträge prüfen, so der VR. Damit endet dieser Verhandlungstag.

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