Prozesstag 106: LKA-Ermittler Michael K. erneut befragt

Am 106. Prozesstag (1. Dezember 2022) gegen die „Gruppe S“ vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wurde erneut der führende Ermittler des Landeskriminalamts Baden-Württemberg (LKA) Michael K. als Zeuge vernommen. In der Vernehmung ging es insbesondere um Aussagen des „Kronbeschuldigten“ Paul-Ludwig U. vom 101. Prozesstag. Michael K. widersprach U.s Schilderungen zu Themen wie Zeugenschutz, Absprachen und behaupteten Einflussnahmen auf U.s Aussage. Dabei beharrte K. weitgehend auf seinen bereits getätigten Aussagen, offenbarte aber auch einige Wissenslücken.

Zu Beginn des 106. Verhandlungstages geht der Vorsitzende Richter (VR) auf die geplante Vernehmung des Zeugen Fred P. aus Lüneburg ein. P. hatte am Treffen der „Gruppe S“ an der Hummelgautsche teilgenommen. Das Gericht nahm mit der gesetzlichen Betreuerin Kontakt auf und erhielt ein Attest, welches Fred P. bescheinigt, weder transport- noch verhandlungsfähig zu sein. Da der Zeuge zudem ankündigte, von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, erwägt der Senat, den Vorführhaftbefehl aufzuheben. Die übrigen Prozessbeteiligten haben keine Einwände.

LKA-Zeuge Michael K. muss sich erneut erklären

Bevor Michael K. vom LKA Baden-Württemberg erneut in den Zeugenstand gerufen wird, lässt der VR einen Vermerk des Zeugen K. vom 20. August 2020 zu einem Treffen mit dem Angeklagten und Hauptbelastungszeugen Paul-Ludwig U. sowie die Mail des LKA-Kollegen O. verteilen, mit der der Vermerk gesendet wurde. Der Vermerk lag den Ermittlungsakten bislang nicht bei. Er wird nun den Verteidiger*innen und der Staatsanwaltschaft ausgehändigt. Der Vermerk kam bereits am 94. Verhandlungstag zur Sprache. K.s Kollegin Maren S. konnte sich damals nicht ganz an den Inhalt erinnern, kündigte jedoch an, den Verbleib des Vermerks herauszufinden und dem Gericht zur Verfügung zu stellen.

Anschließend betritt Michael K. den Verhandlungsaal. Anlass der erneuten Befragung ist die erste Aussage des Angeklagten Paul-Ludwig U. am 101. Prozesstag. U. hatte dort Angaben zu seinem Austausch mit dem LKA Baden-Württemberg gemacht, insbesondere mit seinen Ansprechpartner*innen Michael K. und Maren S.

Der VR greift eine frühere Aussage des Zeugen im Prozess auf. K. hatte angegeben, dass er nach dem 11. Februar 2020 den Angeklagten U. nicht mehr persönlich gesehen habe. Auf die Frage des VR, ob es nach dem 11. Februar 2020 nicht doch einen persönlichen Kontakt gegeben haben könnte, etwa zum Thema Zeugenschutz, bleibt der Zeuge zunächst bei seiner Aussage. Paul-Ludwig U. habe vielleicht versucht, ihn per E-Mail oder telefonisch zu erreichen, „aber eine aktive Kommunikation hat nicht mehr stattgefunden“, betont K.

Ein fast vergessenes Gespräch

Nun wird K. vom VR darüber aufgeklärt, dass er von Herrn O. einen Vermerk erhalten habe, den K. am 20. August 2020 anlässlich eines Treffens am Vortag angefertigt habe. K. erläutert daraufhin, er und seine Kollegin Maren S. hätten ein Gespräch mit Paul-Ludwig U. auf Wunsch der Inspektion 750 geführt. Es handle sich um die Inspektion, die für den Zeugenschutz zuständig sei. Die Kollegen R. und Sch. vom Zeugenschutz hatten zuvor beklagt, dass Paul-Ludwig U. problematisch agiere. U. habe sich gegenüber seinem neuen sozialen Umfeld zu erkennen gegeben, wer er sei und was er gemacht habe. Nach Angaben des Zeugen K. habe sich U. nicht so verhalten, „wie man es von jemandem erwartet, der auf Zeugenschutzmaßnahmen hofft“. Die Beamten des Zeugenschutzes hätten viel versucht, auf U. einzuwirken, seien aber nicht zu ihm durchgedrungen. Weil er (Michael K.) und Maren S. ein gutes Verhältnis zu U. gehabt hätten, seien sie darum gebeten worden, mit U. zu sprechen. Deshalb habe man sich mit U. für eine Stunde in den Räumen des Kriminaldauerdienstes in Schwäbisch Gmünd getroffen. Das Gespräch habe unter sechs Augen stattgefunden, also ohne die Beamten des Zeugenschutzes. Man habe versucht, U. klarzumachen, dass „er sich in nicht einschätzbare Gefahr begibt, wenn er sich zu erkennen gibt“. U. habe sich im Gespräch einsichtig gezeigt und Besserung gelobt.

Der VR merkt an, dass U.s Verhalten merkwürdig wirke. Einerseits habe er unbedingt in den Zeugenschutz gewollt, andererseits außerordentlich unvorsichtig gehandelt. Der Zeuge kann sich das auch nicht erklären. U. sei ihm aber nicht wesensfremd vorgekommen. Laut den Zeugenschützern sei U. einfach schwer zu händeln, eine Aussage, die Paul-Ludwig U. im Prozess mit Kopfschütteln kommentiert.

Auf die Fragen von Thomas N.s Rechtsanwalt (RA) Sprafke, warum der Vermerk nicht in die Ermittlungsakten eingegangen sei und sich der Zeuge an das Treffen nicht mehr erinnerte, erklärte Michael K., das Treffen sei eine „Dienstleistung“ für seine Kollegen des Zeugenschutzes gewesen. Er habe sich nicht mehr erinnern können, weil das Treffen mit den Ermittlungen nichts zu tun gehabt habe. Diese Aussage wiederholt er auch, als der Angeklagte Paul-Ludwig U. nachhakt, ob der Zeuge K. davon ausging, dass der Vermerk im Verfahren nicht zur Sprache komme.

Gab es weitere Kontakte zu Paul-Ludwig U. nach dem 11. Februar 2020?

Der VR fragt den Zeugen Michael K., ob es abgesehen vom Treffen am 19. August 2020 weitere persönliche Treffen mit Paul-Ludwig U. nach dem 11. Februar 2020 gegeben habe. „Strengen Sie Ihr Erinnerungsvermögen an“, mahnt der VR. Der Zeuge gibt an, sich nicht erinnern zu können. Auf die Frage, ob es Kontakt beispielsweise per E-Mail gegeben habe, erklärt der Zeuge, das sei „sicher“ der Fall gewesen. So habe er sich mit einem Kollegen über das Pseudonym von Paul-Ludwig U. unterhalten. Geantwortet habe er auf U.s Mails nicht, außer mit „besten Dank“ oder „alles Gute“. Kontakt habe es nur gegeben, wenn Unterlagen zu übermitteln gewesen seien.

In seiner Aussage am 101. Prozesstag hatte Paul-Ludwig U. erklärt, Michael K. habe ihn zwei Mal nach dem 11. Februar versucht anzurufen. Außerdem soll ein Telefonat nach der Prozesseröffnung stattgefunden haben, in dem sich U. über die zahlreichen Informationen in der Presse beklagt habe. Michael K. bestreitet den telefonischen Kontakt. U. habe dem LKA sein Telefon ausgehändigt. Eine neue Nummer von U. habe er nicht gekannt. An ein „aktives Gespräch“ nach der Prozesseröffnung kann sich der Zeuge ebenso wenig erinnern.

U. hatte außerdem im Prozess von einem weiteren Telefonat nach dem ersten Prozesstag berichtet, in dem über Optionen für den Fall gesprochen worden sei, dass der Prozess platze. Auch hieran hat der Zeuge keine Erinnerung. Auf Nachfrage des Senats erinnert sich der Zeuge aber dann doch an eine telefonische Kommunikation mit Paul-Ludwig U., der sich über die Berichterstattung echauffierte, und zwar „zu einem Zeitpunkt, als der Prozess schon lief“. Er wisse aber nicht, ob er selbst Kontakt hatte oder die Information über die dann für U. zuständigen Kollegen erhalten hatte.

Aussagen von U., Michael K. habe ihm Anweisungen gegeben, die Kommunikation mit ihm auf dem Telefon zu löschen, bestreitet der Zeuge nachdrücklich. Er und seine Kollegin Maren S. seien nach der Übergabe U.s in die zeugenschutzähnlichen Maßnahmen nicht mehr für U.s Belange zuständig gewesen, sondern zwei andere Kollegen.

Paul-Ludwig U. und das Verbot, Waffen mit sich zu führen

Der Angeklagte Paul-Ludwig U. behauptete am 101. Prozesstag vor dem OLG Stuttgart des Weiteren, dass seine Ansprechpartner*innen beim LKA davon gewusst hätten, dass er eine CO2-Waffe besitze und mit sich führe. Er will laut Eigenangabe auch Michael K. darüber informiert haben, dass er im September 2019 in Mönchengladbach beinahe mit der Waffe bei einer Kontrolle erwischt worden wäre. Mit diesen Aussagen durch den VR konfrontiert, verneint der Zeuge, über das Mitführen der Waffe Bescheid gewusst zu haben. Ihm sei nur bekannt gewesen, dass U. eine CO2-Waffe besitze. Er habe U. keinerlei Anweisungen zum Umgang mit der Waffe gegeben, außer einen Hinweis, dass er diese in der Öffentlichkeit nicht mit sich führen darf. Dass Paul-Ludwig U. die Waffe mit nach Alfdorf zur Hummelgautsche oder sogar zu Vernehmungen mitgenommen habe, davon habe Michael K. nichts gewusst.

Tony E.s RA Becker fragt, wann der LKA-Beamte Michael K. und der Informant Paul-Ludwig U. auf U.s CO2-Waffe zu sprechen gekommen seien. Darüber hinaus interessiert den RA, wie es zum Hinweis auf die Strafbarkeit gekommen sei. Der Zeuge K. gibt an, dass das Thema bereits bei der ersten Vernehmung aufgekommen sei. Der Hinweis, dass U. sich strafbar mache, wenn er die Waffe in der Öffentlichkeit mitführt, sei deshalb erfolgt, weil U. den Besitz „so selbstverständlich“ dargestellt habe, „als wäre es völlig normal, so ein Gerät zuhause zu haben“. U. habe sich auf die Ansprache hin verständig gezeigt. Bis zur Durchsuchung in Heidelberg sei das Thema nicht weiter aufgekommen.

Wie sehr war das LKA bei der Heidelberg-Kontrolle involviert?

RA Sprafke greift die Kontrolle am Heidelberger Hauptbahnhof am 2. Oktober 2019 auf. Er möchte wissen, welche Rolle Michael K. bei der – wie sich im Prozess rausgestellt hat – fingierten Kontrolle hatte. Michael K. wiederholt seine Aussage von einem der letzten Prozesstage, dass bereits zum Zeitpunkt der Kontrolle in Heidelberg Paul-Ludwig U. observiert wurde. Was die Kontrolle in Heidelberg betrifft, so habe er mit der Ausgestaltung der Kontrolle in Heidelberg nichts zu tun gehabt. Man habe nur Informationen an die Kontrollkräfte weitergegeben. RA Sprafke erinnert den Zeugen daran, dass er an einem vorherigen Prozesstag ausgesagt habe, es seien keine Informationen an die Bundespolizei geflossen. Michael K. sagt dazu, wenn er das „mutmaßlich“ so gesagt habe, habe er etwas Falsches gesagt.

Die Frage von RA Sprafke, ob er den Namen „E.“ kenne, bejaht der Zeuge. Er kenne den Namen und es handle sich um den Kontrollbeamten vom Heidelberger Bahnhof. Dass der Kontrollbeamte später Probleme bekommen habe, wisse er jedoch nicht. Steffen B.s RA Flintrop will wissen, ob das LKA bei der Heidelberg-Kontrolle vor Ort gewesen sei. Der Zeuge führt aus, dass er nicht involviert gewesen sei. Es entziehe sich auch seiner Kenntnis, dass Observationskräfte des LKA vor Ort gewesen seien. RA Flintrop hält dem Zeugen die Aussage des Kontrollbeamten E. vor dem OLG vor, nach der er und seine Kolleg*innen vom LKA eingewiesen worden wären und gemeinsam den Ablauf besprochen hätten. Michael K. beharrt darauf, dass die Kontrolle von der Bundespolizei durchgeführt worden sei.

Thorsten W.s RA Kist geht der Frage nach, inwiefern Bundesanwältin Zacharias an der Planung der Kontrolle in Heidelberg beteiligt war. Die Bundesanwältin hatte dies bei ihrer Befragung vor dem OLG abgestritten. Der Zeuge gibt an, dass es sich bei der Kontrolle um eine kurzfristige polizeiliche Maßnahme der Gefahrenabwehr gehandelt habe. U. habe sich strafbar gemacht, weil er – wie in einem abgehörten Telefonat angekündigt – die Waffe außerhalb seines Besitzes mit sich führte. Mit der Bundesanwältin sei dann besprochen worden, ob dieser Verstoß gegen das Waffengesetz zum Gesamtverfahren hinzugeschlagen werde. Dies sei aber von der Generalbundesanwaltschaft abgelehnt worden. Auf die Frage von RA Kist, warum der Zeuge dem Amtsgericht Heidelberg nicht sein Wissen mitgeteilt habe, warum Paul-Ludwig U. die Waffe mit sich geführt habe, antwortet der Zeuge, er habe lediglich auf die Fragen der Richterin geantwortet. Nach Meinung des Anwalts habe der Zeuge damit „Wesentliches“ weggelassen, was im Verfahren vor dem Amtsgericht Heidelberg zu einem Fehlurteil geführt habe und den Bundespolizisten E. wegen des gleichen Vorgehens Ärger eingebracht habe.

Paul-Ludwig U.s Ungeduld und die hohen Anforderungen an den Personenbeweises

Die Anwält*innen greifen in ihrer Befragung des Zeugen Michael K. mehrfach einen Vergleich auf, den der Zeuge in einer Vernehmung von Paul-Ludwig U. gezogen haben soll. So soll Michael K. gegenüber Paul-Ludwig U. erläutert haben, dass die Ermittlungen gegen eine mutmaßliche terroristische Vereinigung, die Anschläge plane, schwieriger zu führen seien als ein Verfahren wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Bei einem BtMG-Verstoß habe man ein Beweismittel in Form von Drogen vorliegen. Bei einem Ermittlungsverfahren wie gegen die Gruppe um Werner S. gestalte sich das schwieriger, weil zunächst einmal keine Sachbeweise vorlägen. Tony E.s RA Hofstätter, wie auch weitere Anwält*innen hinterfragen den Anlass und den Zweck des Vergleichs. Der LKA-Zeuge erklärt, mit dem Vergleich habe er Paul-Ludwig U. klar machen wollen, wie aufwändig es sei, in diesem Ermittlungsverfahren einen Tatnachweis zu führen, wenn keine Sachbeweise wie in einem BtMG-Verfahren vorlägen. Der Auslöser für dieses Gespräch sei mutmaßlich der, dass U. sich beklagt habe, viel Geld und Zeit für das Verfahren aufzuwenden. Es sei für ihn schwer, an die Gruppe heranzukommen. Er (K.) habe damit U. den Unterschied zwischen Personenbeweis und Sachbeweis erklären wollen. Auf Nachfrage von RA Flintrop, ob sich diese Erläuterung in der Vernehmungsniederschrift wiederfinde, verneint der Zeuge. Der Vergleich habe nichts mit der Vernehmung zu tun.

Ermittler verlässt sich allein auf Zeugenaussage zu Werner S.‘ Waffe

Paul-Ludwig U. behauptete vor dem OLG, dass die Ermittler*innen, insbesondere Michael K., Einfluss auf sein Aussageverhalten genommen hätten. Dies soll beispielsweise nach dem Treffen an der Hummelgautsche passiert sein. U. habe K. erzählt, dass der Teilnehmer Daniel E. eine Waffe dabeigehabt hätte, er bei Werner S. jedoch keine Waffe gesehen habe. Laut der Aussage von U. vor Gericht soll Michael K. ihn mit einer privaten Nummer angerufen und sich dahingehend geäußert haben, dass es wichtig wäre, wenn U. berichten würde, bei Werner S. eine Waffe gesehen zu haben. U. behauptet, dem Wunsch des Ermittlers nachgekommen zu sein. Auf Nachhaken des VR, ob es derartige Anweisungen und Hinweise seitens des Ermittlers gab, verneint Michael K. das. RA Kist fragt zu einem späteren Zeitpunkt nach, welche Anhaltspunkte der Ermittler dafür hatte, dass Werner S. an der Hummelgautsche eine Waffe mit sich führte. Der Zeuge antwortet, bis auf die dreimalige Aussage von U. keine. Auf Nachfrage des Anwalts, ob er die Observationsbilder, die die Verteidigung nicht zu sehen bekomme, mal angeschaut habe, gibt der Zeuge an, diese nicht gesehen zu haben.

Der Zeuge bestreitet, gegenüber U. Anweisungen gegeben zu haben

Der VR hakt weiter nach und benennt weitere Beispielsituationen, die U. vor Gericht geschildert hat. „Ich habe ihm keine Anweisungen gegeben, was er zu sagen hat“, widerspricht der LKA-Zeuge K. Auf diesem Standpunkt beharrt der Zeuge bei weiteren Nachfragen des VR wie auch der Anwält*innen. Auf den Vorhalt einer Aussage von Paul-Ludwig U. vor Gericht durch den VR, der Zeuge K. habe ihn zu überreden versucht, bis zu einer Waffenübergabe weiterzumachen, entgegnet der Zeuge, man habe U. immer gesagt, dass er all das freiwillig mache. Der Zeuge verneint ebenso, dass es eine Trennung in offizielle Aussagen und inoffizielle, nicht aufgezeichnete Aussagen nach dem Motto „Unter uns Männern“ gegeben habe. In diesem Zusammenhang wurde unter anderem auf ein Treffen mit Paul-Ludwig U. im Oktober 2019 Bezug genommen, das nach einer Besprechung mit der Generalbundesanwältin Zacharias zum Thema Zeugenschutz stattgefunden hat.

Ein weiterer Punkt in der Aussage von Paul-Ludwig U. vor dem OLG betrifft Handlungsanweisungen, die der Kommissar ihm für Gefahrensituationen gegeben haben soll. Der Zeuge K. gibt an, dass er U. geraten habe, in Gefahrensituationen die 110, ihn oder seine Kollegin Maren S. anzurufen. Er habe ihm aber keine Anweisung gegeben, das Telefon in Minden die ganze Zeit bei sich zu tragen. Das mache keinen Sinn. Der VR weist darauf hin, dass das doch gerade Sinn mache, wenn U. anrufen soll. Der Zeuge bleibt dabei: Es habe keine Anweisung an U. gegeben, in Minden das Telefon die ganze Zeit bei sich zu tragen. In Gefahrensituationen hätte man situativ reagieren müssen.

Verteidigung zweifelt an der Aussage des Zeugen

Einige Anwält*innen bohren bei diesem Punkt nach. Michael B.s RA Mandic greift eine Situation aus dem Herbst 2019 auf, in der die „Bruderschaft Deutschland“ eine Strafaktion gegen ein früheres Mitglied plante und Paul-Ludwig U. sich ursprünglich daran beteiligen sollte. Hier stelle sich die Frage, was Paul-Ludwig U. in dieser Situation hätte tun sollen. Der Anwalt interessiert sich dafür, ob und welcher Rat für diese Situation gegeben wurde. Der Zeuge erinnert sich an eine Aussage U.s zur Situation, verweist aber darauf, dass es sich um ein anders Verfahren handle und er keine Details kenne. Auf Nachfrage des Anwalts, ob er ihm geraten habe, bei der Racheaktion Zeit zu schinden, räumt der Zeuge ein, das könne „gut sein“.

Thomas N.s RA Stehr erfragt, warum Pausengespräche mit verfahrensrelevanten Inhalten nicht im Protokoll niedergeschrieben wurden. Der Zeuge entgegnet, dass die Inhalte in der vorangegangenen Vernehmung Gegenstand gewesen seien.

Die 0163… sorgt für Irritationen

Die Aussage des Zeugen, er habe gegenüber Paul-Ludwig U. keine Anweisungen gegeben, stoßen auf Argwohn. Von Seiten der Anwält*innen wird hinterfragt, mit welchen Nummern der Zeuge den Hauptbelastungszeugen und Angeklagten Paul-Ludwig U. angerufen hat. Gegenüber RA Becker stellt der Zeuge die Aussage in den Raum, er könne nicht ausschließen, Paul-Ludwig U. mit einer anderen Nummer als der U. bekannten angerufen zu haben. Er verfüge über mehrere Dienstnummern. Wie oft, könne er nicht sagen. Michael K. kann sich auch nicht vorstellen, U. mit unterdrückter Nummer angerufen zu haben, aber auch das kann er nicht ausschließen. Einen Messengerdienst habe er nicht auf seinem Dienstgerät gehabt, weil das „ein alter Knochen“ gewesen sei, also kein Smartphone. Auf Nachfrage von RA Sprafke, welches Gerät er privat nutze, antwortet der Zeuge, bei diesem Gerät handle es sich um ein Smartphone mit allen gängigen Messengern. Paul-Ludwig U. habe aber die Nummer nicht erhalten können, auch nicht von Dritten.

Auf die Frage von Wolfgang W.s RAin Rueber-Unkelbach, ob der Zeuge Paul-Ludwig U. mit einer privaten Nummer angerufen hat, antwortet der Zeuge, das könne er „definitiv ausschließen“. RA Kist kramt aus seinen Unterlagen eine 0163-Nummer heraus. Die Nummer wurde unter anderem für ein Telefonat nach dem Treffen in Minden von Paul-Ludwig U. genutzt. Der Zeuge gibt an, dass die Nummer nicht rausgegeben wurde und glaubt das Telefonat mit seinem „alten Knochen“ geführt zu haben. RA Kist fällt jedoch auf, dass die 0163-Nummer in vier Gesprächen genutzt wurde, aber im Gegenanschluss gelöscht wurde. Der Zeuge kann sich das nicht erklären, zumal er kein IT-Experte sei. Er vermutet, dass es eine Umleitung gegeben habe. Der Anwalt weist jedoch darauf hin, dass es sich um abgehende Anrufe vom Anschluss Paul-Ludwig U.s handle.

U. hatte seit der ersten Vernehmung eine Nummer für Notfälle erhalten. Die 0163-Nummer sei nach Angabe des Zeugen nur in Stresssituationen oder wenn er kein anderes Telefon zur Verfügung hatte, genutzt worden. Als der Anwalt darauf beharrt, wer die Nummer erhalten habe, zieht sich der Zeuge auf die Aussage zurück, dass er sich technisch nicht gut genug auskenne und es sich möglicherweise um eine Rufumleitung handle.

Paul-Ludwig U. hatte zudem angegeben, seinen Live-Standort beim Minden-Treffen an Michael K. zu senden. Der Zeuge erinnert sich zwar daran, dass U. das in einer Vernehmung angekündigt hatte, aber nicht daran, dass U. das auch gemacht habe.

Dienstgeheimnis „Verdeckte Maßnahme“

Die Frage, inwiefern Paul-Ludwig U. von Abhör- und Observationsmaßnahmen Bescheid wusste, ist Gegenstand der Befragung durch den VR und die Anwält*innen. So fragt der VR den Zeugen, ob Paul-Ludwig U. ihn mal gefragt habe, ob seine Gespräche abgehört werden. U. habe in Gesprächen gegenüber dem Zeugen seine Sorge geäußert, „hoffentlich hören die uns nicht ab“. Der Zeuge erklärt, sich nicht an die Frage erinnern zu können. Die Antwort läge jedenfalls auf der Hand: Er habe sich gegenüber U. nicht zu verdeckten Maßnahmen geäußert. Die Nachfrage des VR, ob Michael K. Paul-Ludwig U. auch angelogen hätte, bejaht der Zeuge.

RA Flintrop geht auf die Verfolgung von Paul-Ludwig U. und Wolfgang W. bei der Rückfahrt vom Treffen in Minden ein. Beide waren von einem schwarzen BMW verfolgt worden. Paul-Ludwig U. hatte den LKAler Michael K. angerufen und davon berichtet. K. habe ihm am Telefon gesagt, er könne sich eine Observation nicht vorstellen. RA Flintrop hält dem Zeugen die Aussage von Paul-Ludwig U. vor Gericht vor, nach der Michael K. bei einer Vernehmung über die Observation in Minden gesprochen haben soll. Der Zeuge widerspricht: „Nein, dann hätte ich ein Dienstgeheimnis verraten.“ In der Befragung des Zeugen durch Stefan K.s RA Just gibt er an, über Einzelheiten der Observation nicht Bescheid zu wissen und auch nicht die Akte des LKA-Kollegen Matthias F. aus der Inspektion 650 (Observation) zu kennen. RA Just bohrt nach: „Und dass durch eine ‚hoppla-di-hopp‘-Aktion die Observation aufgeflogen ist, das haben Sie nicht mitbekommen?“ Das „Nein“ von Michael K. überzeugt den Anwalt nicht. „Das müssen Sie doch mitbekommen haben“. Doch der Zeuge bleibt bei seiner Aussage.

Markus Ks. RAin Schwaben hinterfragt den Grund, warum man verdeckte Maßnahmen gegen Paul-Ludwig U. angewendet habe, obwohl ihm mehrfach gesagt wurde, er sei Beschuldigter und solle keine Straftaten begehen. Der Zeuge macht klar, dass U. Beschuldigter in einem §129 StGB-Verfahren sei. Wäre das nicht gemacht worden, hätte man auch das hinterfragt. „Ich weiß gar nicht, was ich hier noch sagen soll“, äußert der Zeuge. „Da hat er Recht“, pflichtet ihm der VR bei.

Zeugenschutzähnliche Maßnahmen

Ein Dauerbrenner im Verfahren gegen die „Gruppe S“ ist die Frage nach der Rolle des Hauptbelastungszeugen und Angeklagten Paul-Ludwig U. An mehreren Prozesstagen wurde die Frage aufgeworfen, ob Paul-Ludwig U. nach dem Auffliegen der Gruppe Zeugenschutz erhalten hatte. U. hatte in seiner Aussage am 101. Prozesstag angegeben, er sei davon ausgegangen, er werde Zeugenschutz für seine Informationen erhalten. Sein Glaube daran sei durch Aussagen von Michael K. gestützt worden. Dieser würde sich inoffiziell darum kümmern.

Der VR konfrontiert den Zeugen K. mit den Aussagen von Paul-Ludwig U. und fragt erneut nach dem Status von Paul-Ludwig U. Das stimme nicht, entgegnet der LKA-Beamte. U. sei mehrfach darauf hingewiesen worden, dass er sich selbst belasten könne. Michael K. habe U. ein Mal auf seinem Tablet den §129 StGB vorgelesen und damit klar gemacht, dass es keine Möglichkeit gebe, ihn als Quelle zu führen. Das sei bereits im Gespräch mit Paul-Ludwig U. am 14. Oktober verdeutlicht worden. Um den Zeugenschutz habe sich K. also nicht kümmern können. K. bestreitet, gegenüber U. etwas in der Richtung zugesagt zu haben. Die Ermittler hätten sich dennoch Gedanken gemacht, wie U. geschützt werden könne.

Auf Nachfrage von RA Becker beharrt der Zeuge K. darauf, U. keine Hoffnung auf Zeugenschutz gemacht zu haben. Er sei für den Zeugenschutz auch gar nicht zuständig. RA Beckers Kollege RA Hofstätter verweist auf Ausnahmen aus der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ), in denen Michael K. „ich bin da dran“ gesagt habe oder „wir geben das an den GBA weiter“. Michael K. erklärt, dass nach dem Gespräch mit Generalbundesanwältin Zacharias Paul-Ludwig U. unmissverständlich klar gemacht worden sei, dass laut GBA ein Quellenstatus nicht möglich sei. Warum U. trotzdem immer wieder nach dem Zeugenstatus gefragt habe, könne er sich nicht erklären.

Was verstanden LKA und U. unter „zeugenschutzähnliche Maßnahme“?

Marcel W.s RA Picker und später auch Werner S.‘ RA Siebers greifen eine Formulierung aus dem eingangs verteilten Vermerk vom 20. August 2020 auf. Dort heißt es, U. sei verdeutlicht worden, dass er sich nicht im Zeugenschutz befinde, sondern bis zur Hauptverhandlung in einem Schutzkonzept. Ihm (RA Picker) sei mit der Zeit immer unklarer geworden, welche Maßnahmen ergriffen worden seien und ob diese auf dem Zeugenschutzhilfegesetzes basiert hätten. Der LKA-Ermittler gibt an, dass es sich um eine zeugenschutzähnliche Maßnahme nach dem Polizeirecht handle, damit eine Gefahrensituation zum Nachteil von Paul-Ludwig U. nicht eintrete. Genaueres zu den Bedingungen könne er nicht sagen, weil er dafür nicht zuständig sei. RA Siebers zweifelt an, dass U. das richtig verstanden habe, aber der Zeuge entgegnet, Paul-Ludwig U. den Unterschied verdeutlicht zu haben. Auf Nachfrage beider Anwälte gesteht der Zeuge ein, dass er die gesetzliche Grundlage nicht nennen könne, weil er dafür nicht zuständig sei.

Wolfgang W.s RA Grassl zeigt sich irritiert darüber, dass Michael K. nicht für den Zeugenschutz zuständig sei, aber darüber Bescheid wisse, dass sich Paul-Ludwig U. in eine zeugenschutzähnlicher Maßnahme befinde. Woher der Ermittler die Information dazu hätte, möchte er wissen. Von seinem Vorgesetzten und von den Kolleg*innen aus dem Zeugenschutz, antwortet dieser. Michael K. ergänzt, dass die Maßnahmen bereits bei der Übergabe an die zuständigen Kollegen am 11. Februar begonnen hätten.

Nach Beendigung der Befragung durch die Verteidiger*innen ergreift Paul-Ludwig U. die Gelegenheit, dem Zeugen Michael K. Fragen zu stellen. Er greift eine Aussage des Zeugen vom heutigen Vormittag auf. Michael K. habe gesagt, U. sei bei jeder Vernehmung über seinen Status als Beschuldigter belehrt worden. „Bei nahezu jeder“, wirft der Zeuge ein. U. verweist auf drei Aufnahmen aus der TKÜ, die am vorherigen Prozesstag abgespielt worden waren und in denen U. nicht belehrt wurde. „Wie erklären Sie sich, dass ich da nicht belehrt wurde?“, fragt der Angeklagte. Michael K. kontert, dass er – nachdem U. bereits in mehreren Vernehmungen, teils im Beisein der Staatsanwaltschaft über seinen Status belehrt worden war – annehmen konnte, dass U. über seinen Status Bescheid wusste. Deshalb habe man ihn nicht bei jedem Gespräch belehren müssen.

Nach der Aussage von Paul-Ludwig U.: Wie steht der LKA-Beamte nun zum Hauptbelastungszeugen U.?

Wie hat sich das Verhältnis des Ermittlers Michael K. zum Hauptbelastungszeugen und Angeklagten Paul-Ludwig U. seit den Ermittlungen entwickelt? Dies ist eine weitere Frage, der die Anwält*innen nachgehen. RA Sprafke verweist auf den engen Kontakt zu U. während den Ermittlungen. Er fragt, ob der Zeuge über alles informiert war, was Paul-Ludwig U. in Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren gemacht hat. Das er über alles Bescheid wusste, das möchte sich der Zeuge nicht anmaßen. Aber über U.s Äußerungen in der TKÜ habe er einiges mitbekommen.

RA Becker will vom Zeugen wissen, ob er über U.s Aussage überrascht gewesen sei, denn der Ermittler hat U.s Aussagen über die Art ihrer Zusammenarbeit klar verneint. Michael K. bestätigt, er sei überrascht gewesen, weil U.s Aussagen „den Tatsachen nicht entsprechen“. „Das heißt, Paul-Ludwig U. hat gelogen?“, fragt der Anwalt. „Entsprechen nicht den Tatsachen“, wiederholt der Zeuge. Die Frage von RA Hofstätter, welche Motivation Paul-Ludwig U. zu diesen Aussagen veranlasst haben könnten, beantwortet K. mit „Ich kann mir die Motivation nicht erklären“. Ob er in den Ermittlungen heute etwas anders machen würde, hakt der Anwalt nach. Der Zeuge erklärt, er würde jeden kleinsten Schritt detaillierter protokollieren, z.B. Pausengespräche, jeden kleinsten Kontakt. Aber er glaube nicht, dass ihm die Aussage von U. auf die Füße fallen werde. „Sie haben keinen Grund zur Selbstkritik?“, will der Anwalt wissen. Der Zeuge blockt ab. Was er anders machen würde, habe er gesagt.

RA Siebers geht darauf ein, dass der Zeuge es vermieden habe, U. der Lüge vor Gericht zu bezichtigen, aber über U.s Aussage überrascht gewesen sei. Er will wissen, ob der Zeuge weiterhin zu der Aussage stehe, dass die Aussagen von Paul-Ludwig U. glaubhaft waren. Der Zeuge wiederholt, was er bereits bei vorherigen Prozesstagen aussagte: Insgesamt habe er keinen Anlass gehabt, an der Aussagen von U. zu zweifeln, weil diese durch andere Maßnahmen belegt werden konnten. Dabei bleibe er. Auf die Frage von RA Siebers, ob sich der Blick am heutigen Tag geändert habe, entgegnet Michael K., er habe noch nicht über alles nachgedacht und müsse das erst mal verarbeiten.

Ein Telefonat mit Maren S.

Über die Aussage von Paul-Ludwig U. am 101. Prozesstag habe er von seinem Vorgesetzten erfahren, der es wiederum vom GBA mitgeteilt bekommen habe, so Michael K. Er habe diese Information dann an seine Kollegin Maren S. weitergegeben. Über den Inhalt der Aussage habe man ihn aber nicht informiert. Über den Fortgang des Verfahrens seit seiner letzten Aussage habe er sich über Zeitungen und Social Media informiert.

Wie der Kontakt zu Maren S. zustande gekommen sei, fragt RA Flintrop. Michael K. gibt an, mit Maren S. wegen ihres Wohlbefindens telefoniert und in diesem Zuge die Info weitergegeben zu haben. Sie sei überrascht gewesen. Man habe aber nicht weiter über die Bedeutung der Aussage von Paul-Ludwig U. diskutiert. RA Flintrop wirft ein, dass seine Kollegin das anders geschildert habe. Er könne sich nicht jedes Telefonat merken, entgegnet K.

Auf Nachfrage von Werner S.‘ RAin Klein, über welche genauen Quellen sich der Zeuge über den Prozess informiert, gibt dieser eine Seite von Prozessbeobachter*innen an. Als RAin Schwaben mit einem Blick auf die Seite prozessbeobachtung.org einwendet, dass dort nur die Protokolle bis zum 30. August 2022 eingestellt seien, erklärt der Zeuge, Tweets bei Twitter „hin und wieder zur Kenntnis“ genommen zu haben.

Die Verteidigung äußert ihr Misstrauen gegenüber dem Zeugen K.

Die Anwält*innen zeigten sich nach der Vernehmung des Zeugen Michael K. erneut sehr kritisch. So wird ihm ein „flexibler Umgang mit der Wahrheit“ vorgeworfen. RA Becker fasst die Situation so zusammen: entweder, man glaube den Einlassungen von Paul-Ludwig U., dann habe man es mit einer geführten Vertrauensperson zu tun, die vom LKA massiv getäuscht worden sei. Oder man glaube Michael K. Dann habe man es mit einem Beschuldigten zu tun, der vor der Anklageerhebung umfangreiche Angaben gemacht habe und auch jetzt lüge „bis sich die Balken biegen“.

RA Siebers geht davon aus, dass einer der beiden gelogen habe und regt daher einen Verwertungswiderspruch für alle Telefonate an, die zwischen Paul-Ludwig U. und der Polizei im Rahmen der TKÜ in das Verfahren eingeflossen seien. Dem schließen sich mehrere Anwält*innen an. RA Mandic beantragt, das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses gleich ganz einzustellen. GBA Bellay plädiert dafür, diesem Antrag nicht stattzugeben, da die Voraussetzungen für eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation nicht vorlägen.

Gegen 17.30 Uhr beschließt der VR den 106. Verhandlungstag mit dem Satz: „Besuchen Sie uns bei prozessbeobachtung.org“.

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