Am 29. November 2022 fand in Stuttgart-Stammheim der 105. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ statt. Der Angeklagte und Dauer-Hinweisgeber Paul-Ludwig U. wurde weiter von den Verteidiger*innen der anderen Angeklagten befragt. Insgesamt hielten sich die meisten aber zurück, ähnlich wie der Senat. Offenbar traut man den Angaben von U. nicht. Sehr verwunderlich ist das nicht, da sich in den Aussagen und Behauptungen von Paul-Ludwig U. viele Widersprüche und Fehler finden. Laut U. hätte sein LKA-Kontaktbeamter Michael K. sich gewünscht, dass U. bis zur Waffenübergabe in der Gruppe aktiv sein sollte. Das widerspricht der ständig wiederholten Beteuerung der Behörden, dass U. nie im Auftrag der Behörden, sondern stets aus eigener Entscheidung gehandelt habe. Paul-Ludwig U. sagte außerdem, dass er „aus heutigem Wissen nicht einen“ seiner Mitangeklagten für Terroristen halte. Während der Ermittlungen habe er unter Druck gestanden. Er würde heute nicht mehr zur Polizei gehen. Anschließend wurden abgehörte Telefonate zwischen U. und seinen LKA-Kontaktpersonen Maren S. und Michael K. von Dezember 2019 bis Januar 2020 abgespielt. Darin wurde erneut ein sehr enges Verhältnis zwischen U. und Michael K. sichtbar. Der Vorsitzende Richter verlas am Ende noch ein Protokoll mit einer Aussage von Markus K. kurz nach seiner Verhaftung am 14. Februar 2020. Demnach habe Werner S. Anschläge vorbereiten wollen. Es sei ein Termin für die Planung der Anschläge anberaumt worden. Es hätten beim nächsten Treffen nur sieben Leute kommen sollen, darunter Werner S., Tony E. und Thomas N.
Die erste Frage dieses Prozesstags stellt Marcel W.s Verteidiger (RA) Picker. Er interessiert sich dafür, welche Gelder Paul-Ludwig U. von den Behörden bekam. U. erklärt, er habe nur Geld als Ersatz für normale Leistungen erhalten. [Als seine Mitbeschuldigten verhaftet wurden, kam U. in eine Art Zeugenschutzprogramm. Da er dort vorerst keine Sozialleistungen mehr erhalten konnte, sprang das LKA in gleiche Geldbetragshöhe ein.] RA Picker fragt weiter, ob U. den Eindruck gehabt hätte, dass ohne eine entsprechende Aussage eine bestimmte Maßnahme [beispielsweise Zeugenschutz oder Straferlass] außer Reichweite gewesen sei. Paul-Ludwig U. bestreitet das: Er habe daran geglaubt, dass er da rein [zeugenschutzähnliche Maßnahme] komme; weitere Aussagen seien nie die Voraussetzung gewesen.
Michael B.s RA Mandic möchte wissen, ob Michael K. ihn bedrängt habe, als U. überlegte, keine weiteren Aussagen mehr zu machen. Der Angeklagte erklärt, er habe nach dem 8. Februar 2020 [dem zentralen Treffen der „Gruppe S“ in Minden] geäußert, dass er nicht mehr wolle und könne. Michael K. habe gesagt, dass es gut sei, „wenn Sie bis zur Waffenübergabe dabei sind“. Er habe darauf entgegnet: „Sind sie wahnsinnig?“ Später [in der zeugenschutzähnlichen Maßnahme] habe er sich bei einem Telefonat mit Michael K. über Informationen in der Presse aufgeregt. Michael K. habe gesagt, die Presse habe beim LKA oder beim GBA wohl einen Informanten.
Der RA erkundigt sich, wie es auf U. wirkte, als Michael K. ihm sagte, dass die 300 Beamten und die ganzen Observationsteams sauer auf ihn wären, wenn die Sache scheitern sollte. Der Angeklagte erinnert sich, es habe „erst Mal beklemmend“ gewirkt. Ihm wäre mulmig, wenn so viele Beamte sauer auf ihn seien.
U. fühlte sich durch den Waffenfund in Heidelberg „unter Druck gesetzt“
Außerdem möchte der RA wissen, warum Michael K. U. anwies, sein Handy [beim Treffen] bei sich zu behalten. U. erklärt, er habe gewusst, dass er observiert werde. Er habe sein Handy tatsächlich dabeigehabt. Im Telefonat mit Michael K. habe er gesagt, er habe nichts gestohlen. [Der Mindener Gastgeber Thomas N. hatte U. nach dem Treffen vorgeworfen, Geld und Schmuck gestohlen zu haben.] K. habe geantwortet, er wisse das „zu einhundert Prozent“. [Diese Überzeugung führt U. offenbar auf eine Handy-Überwachung zurück.]
Bezüglich der fingierten Zufallskontrolle, bei der die Polizei U. am Heidelberger Hauptbahnhof eine CO2-Waffe abnahm, erkundigt sich der RA, ob U. in der Folge mehr unter Druck gestanden habe, weiterhin Aussagen zu machen und in der Gruppe zu bleiben. U. sagt, in der Rückschau habe er sich durchaus „unter Druck gesetzt“ gefühlt. Er merkt an, dass er Michael K.s Auftreten hier im Gericht als „unglaubwürdig“ empfunden habe.
Der RA fragt nach Gesprächen mit Michael K. außerhalb der Vernehmungen. [Beispielsweise gingen die beiden in Vernehmungspausen mehrmals zusammen rauchen; das Gesagte steht daher nicht im Vernehmungsprotokoll.] Der Angeklagte gibt an, diese Zweiergespräche hätten ausschließlich den Zweck gehabt, Zeugen zu vermeiden. Auf Nachfrage bestätigt er, im Verhalten des LKA „aus heutiger Sicht“ eine „polizeiliche List“ zu erkennen.
U. hält „aus heutigem Wissen nicht einen“ der Angeklagten für einen Terroristen
Weiter erzählt U., dass der Sachverständige Winckler ihn gefragt habe, ob er einen der Angeklagten für einen Terroristen halte. Er habe darauf geantwortet: „Nein, aus heutigem Wissen nicht einen.“ Er habe im Prozess viel Neues gehört. Damals habe er unter Druck gestanden. Er würde heute nicht mehr zur Polizei gehen.
Der RA fragt U., ob er beim Hummelgautsche-Treffen gegen Politiker gehetzt habe. U. verneint das. Ob es bei dem Treffen in Minden Bedenken gegeben habe gegen seinen Vorschlag, eine Moschee anzugreifen. Paul-Ludwig U. erzählt, Marcel W. und Frank H. hätten Einwände geäußert. Das habe er auch der Polizei in Stuttgart und Gießen gesagt. Der RA möchte von U. wissen, ob er Druck auf die anderen ausgeübt habe. Paul-Ludwig U. antwortet, jeder habe Druck ausgeübt, „ich auch“.
Der RA möchte wissen, ob Michael K. daran geglaubt hätte, dass die Gruppe kurz davor gewesen sei, einen Bürgerkrieg anzuzetteln. U. erwidert, Michael K. habe gesagt, es brauche noch weitere Treffen, weil es noch nichts Konkretes gebe.
U. bestreitet, heimlich über ein weiteres Handy kommuniziert zu haben
Michael B.s zweiter RA Berthold fragt nach U.s Handy, das zur Untersuchung gegeben wurde. Er möchte wissen, ob U. zwischen September 2019 und dem 11. Februar 2020 ein weiteres Handy besaß. [Mehrmals kam die Vermutung auf, U. könnte ein zweites Handy genutzt haben, um die Abhörmaßnahmen zu umgehen.] U. beteuert, er habe nur ein Handy gehabt.
Gefragt danach, wer ihm riet, er solle die CO2-Waffe im Rucksack mit sich führen, nennt U. die Beamten W. und Michael K.
Der RA möchte außerdem wissen, ob U. den Eindruck hatte, dass die Teilnehmer des Mindener Treffens eine Agenda hatten und sie weiterverfolgten. Paul-Ludwig U. verneint.
Ob er Menschen als gefährdet angesehen habe? Paul-Ludwig U. antwortet: „Zum damaligen Zeitpunkt ja, nach heutiger Sicht nein.“ Man habe in Minden zum Schluss zugestimmt, aber wollte nur weg. Als Beleg führt er Frank H.s Entscheidung an, nicht in Minden zu übernachten.
Deutliche Wende im Prozess
Damit endet die Befragung von Paul-Ludwig U. Der Vorsitzende Richter (VR) fragt nach Statements. RA Mandic spricht von einer deutlichen Wende im Prozess. U.s Glaubwürdigkeit sei natürlich angeschlagen, aber er habe einen Schwenk vollzogen. Er wiederholt U.s Aussage: „Aus heutiger Sicht sage ich, das sind keine Terroristen.“ Die Fokussierung auf die Gruppe liege daran, dass das LKA die rechte Szene auf die Agenda gesetzt habe. Der Kampf gegen Rechts sei ein Grundpfeiler der Bundespolitik. Die Behörden bedienten sich labiler Personen. Sie nutzten Menschen, die etwas kompensieren müssen. Es sei Paul-Ludwig U. hoch anzurechnen, dass er die Notbremse ziehe.
Anschließend führt der VR mehrere Telefonate aus der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) als Beweismittel ein.
TKÜ vom 23. Dezember 2019: Gespräch von Paul-Ludwig U. mit Michael K.
Paul-Ludwig U. erzählt, dass die „Bruderschaft Deutschland“ einen Racheakt gegen ein ehemaliges Mitglied plane, der u.a. Leute bestohlen habe und sich weigere, seine Klamotten zurückzugeben. U. sagt weiter, er sei dazu auserkoren, an der Racheaktion teilzunehmen, und habe zugesagt. Man wolle das Ex-Mitglied körperlich bestrafen. Ebenfalls beteiligen würden sich u.a. Patrick „Stöpsel“ M. und ein „Buchi“ aus Penzberg [ursprünglich „Sektion Bayern“]. Michael K. ermahnt U., sich nicht strafbar machen, und betont: „Sie handeln nicht im Auftrag der Polizei.“ Er schlägt U. vor zu intervenieren. Er räumt aber auch ein: „Wenn ich gegen die Herren vorgehe, dann wissen sie, woher die Information stammt. Nämlich von Ihnen.“ Außerdem kennt U. den Namen des Opfers nicht.
Weiter berichtet U., dass Ralf N. [Anführer der „Bruderschaft Deutschland“] ihm zugesichert habe, ihn am 18. Januar 2020 [Datum des ursprünglich geplanten Treffens der „Gruppe S“] mitzunehmen.
Außerdem warnt K. Paul-Ludwig U. vor dem Ton in seiner E-Mail-Kommunikation: „Diese E-Mails tauchen wieder auf. Überlegen Sie sich mal, was Sie schreiben.“ U. entgegnet: „Ich habe die E-Mail so geschrieben, und dazu stehe ich.“ Außerdem bittet er Michael K.: „Wenn Sie was planen, sagen Sie bitte Bescheid.“
U. betont: „Ich habe einen gewissen Ruhm, der mir vorauseilt, und der bringt mich dahin, wo ich jetzt bin“. Als Beispiel erzählt er, Ralf N. habe ihm gesagt, normalerweise gebe es in der „Bruderschaft“ ein halbes Jahr Probezeit. [U.s Erzählung zufolge konnte er diese Probezeit wegen seiner Vorgeschichte mit langen Haftstrafen und der Geiselnahme eines Polizisten überspringen.]
Nach dem Audio geben die Verteidiger*innen Statements ab. Werner S.‘ RA Siebers sagt, bei diesem Telefonat werde nicht über die Angeklagten gesprochen. Spannend hingegen findet er den Rat, U. solle sich in E-Mails nicht zu offen äußern. Die Anweisung: „Wenn Sie was planen, sagen Sie bitte Bescheid“ sei ein Auftrag. Der RA kritisiert außerdem, dass U. im Telefonat nicht belehrt wurde.
RA Mandic mutmaßt, der Senat habe das Telefonat wohl ausgewählt, um es U.s heutigen Aussagen gegenüberzustellen. Dagegen sprächen jedoch die ganzen Pausengespräche, von denen U. berichtet habe.
TKÜ vom 15. Januar 2022: Gespräch von Michael K. mit Paul-Ludwig U.
U. hebt ab und beklagt sich nach der Begrüßung, er habe nur schlecht in den Schlaf gefunden, da ihm „die Geschichte nicht aus dem Kopf“ gehe. [Es geht offenbar wieder um die Rache-Aktion der „Bruderschaft Deutschland“.] Michael K. beschwört U., „aus Glaubwürdigkeitsgründen“ nicht direkt abzusagen. Vielleicht könne er mit einer Finte Zeit schinden. U. nimmt sich vor, das irgendwie anders hinzubekommen. Das sei für alle besser, auch um das Treffen am 8. Februar 2020 nicht zu gefährden.
Außerdem teilt er mit, dass Ralf N. für den 8. Februar abgesagt habe und stattdessen Kai K. und Richard L. schicken werde. Anschließend sprechen K. und U. darüber, wo das Treffen stattfinden wird – K. vermutet bei Tony E., U. denkt an die Lüneburger Heide. U. kündigt an, ein Fallschirmjäger und ein Fremdenlegionär würden auch kommen.
Der VR fragt nach Erklärungen. RA Siebers ist der Auffassung, dass man das als Auftrag bezeichnen könnte, wenn Michael K. U. raten würde, nicht abzusagen, sondern Zeit zu schinden. Wieder habe es keine Pro-Forma-Belehrung gegeben. Außerdem äußert der RA den Verdacht, die Behörde, für die Ralf N. arbeite [angeblich ist er ein V-Mann], habe entschieden, ihn rauszuhalten und Paul-Ludwig U. über die Klinge springen zu lassen.
TKÜ vom 17. Januar 2020: Gespräch von Paul-Ludwig U. mit Michael K.
Paul-Ludwig U. fragt Michael K., ob er die E-Mails bezüglich des Treffens bekommen hat. Wenn die Rache-Aktion stattfände, dann nach dem 8. Februar 2022. Kai K. und Ralf N. würden versuchen, ihn rauszuhalten. Sie hätten ihm gesagt: „Deine Aufgabe ist der 8.2.“
U. erwähnt einen Aufruf von Werner S., er suche Leute, die mehr machen als zu demonstrieren. Michael K. bittet U.: „Sie passen auf sich auf, wie immer.“ Außerdem sagt er, für die Vorbereitung [auf das Treffen] bräuchten sie noch Zeit. U. fragt, ob er Anfang Februar vor dem Treffen nochmal anrufen soll, und K. antwortet: „Auf alle Fälle“.
Protokoll der Haftverfügung des GBA gegen den Angeklagten Markus K.
Der VR verliest das Protokoll von der Haftverfügung des Ermittlungsrichterin Dr. Brenneisen von der Bundesanwaltschaft gegen den Angeklagten Markus K. Er sei vorgeführt worden und mit seinem Verteidiger Dr. Stein aus Karlsruhe erschienen. K. habe sein Geburtsdatum, seine Adresse und seinen Beruf genannt und anschließend ausgesagt, nachdem ihm der Tatvorwurf erklärt wurde. K. habe erzählt, er habe Giovanni [Werner S.] bei einem Treffen über Thomas N. kennengelernt. Ihm sei bekannt, dass „Gegenstand des Treffens rechtsextreme Aktivitäten sein“ sollten. Giovanni habe Anschläge vorbereiten wollen. Das habe ihn überrascht, aber er habe Angst gehabt, das Treffen zu verlassen. Es habe auch die Abfrage offensiv/defensiv gegeben – darunter habe er verstanden, wer Demos vorbereiten würde.
Es sei ein spezifischer Termin für die Planung der Anschläge vereinbart worden. Zum nächsten Treffen hätten sich sieben Leute angekündigt, darunter Giovanni, Tony E. und Thomas N. Außerdem habe man vereinbart, dass Paul-Ludwig U. die Waffen abholen würde. Es sei ein Geldbetrag von bis zu 40.000 Euro zugesagt worden. K. betont, er habe keine Waffe gewollt und habe keine Geld zugesagt. Zu Hause habe er Baseballschläger und Quarzhandschuhe nur zur Verteidigung bei einem Stromausfall gelagert. Das Protokoll endet damit, dass K.s RA die Außerkraftsetzung des Haftbefehls beantragt.
Statements der Verteidigung
Der VR fragt nach Erklärungen. Werner S.‘ RA Siebers verweist auf einen neuen Beschluss des Bundesgerichtshofs vom November 2022, in dem es um „rechtliche Unwissenheit“ bei Aussagen gehe. Die leitende Oberstaatsanwältin Zacharias habe gesagt, die teilweise fehlende Beiordnung eines Pflichtverteidigers sei ihr durchgerutscht.
RAin Schwaben, RA Sprafke, RA Herzogenrath-Amelung, RAin Rueber-Unkelbach, RA Flintrop, RA Berthold, RA Siebers und RA Hofstätter widersprechen der Verwertung des Haftprotokolls.