Für den 104. Prozesstag am 25. November 2022 gegen die „Gruppe S“ wurden vier Zeug*innen geladen. Der Prozesstag war dennoch am späten Mittag bereits beendet. Der Zeuge Carsten Sch. aus Ostwestfalen fehlte ohne ordnungsgemäße Entschuldigung. Die Zeugen Sven G. aus Schönebeck/Elbe und Ralf N. aus Düsseldorf, einer der Anführer der „Bruderschaft Deutschland“, machten von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch. So sagte schließlich nur Polizeihauptmeisterin Evelyn S. aus, die zwischenzeitlich zum Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg abgeordnet worden war. Sie war an der Hausdurchsuchung bei Thorsten W. in Hamm beteiligt und in ihrer Zeit beim LKA mit der Aufklärung rechter Personen und Gruppierungen beschäftigt.
Der Vorsitzende Richter (VR) setzt die Verhandlung im „Gruppe S“-Verfahren fort. Als erster Zeuge ist Carsten Sch. geladen, doch er erscheint nicht. Er hatte laut VR in einer Mail vom 23. November 2022 durch Zusendung von Unterlagen versucht zu erklären, dass er am Verfahren nicht teilnehmen könne. Nach Prüfung der Unterlagen durch den psychiatrischen Sachverständigen (SV) Dr. Winckler lässt sich daraus jedoch keine Transport- oder Verhandlungsunfähigkeit ableiten. Am Morgen des Verhandlungstages hatte der Zeuge eine E-Mail gesendet, in der er erklärte, er habe sich in die Notaufnahme in Bad Oeynhausen begeben müssen. Die Oberstaatsanwältin Bellay erklärt, der Zeuge habe sich nicht ordnungsgemäß entschuldigt. Sie beantragt ein Ordnungsgeld in Höhe von 200 Euro oder ersatzweise zwei Tage Ordnungshaft. Der VR beschließt die Verhängung eines Ordnungsgelds gegen den Zeugen. Er wird erneut vorgeladen.
Die Polizeizeugin war während der Razzia bei Thorsten W. für die Asservate zuständig
Nach einer Pause wird die Zeugin Evelyn S. in den Zeugenstand gerufen. Sie ist Polizeihauptmeisterin und arbeitet an der baden-württembergischen Hochschule für Polizei. Seit 2015 ist sie im Polizeidienst tätig und war vom September 2019 bis September 2020 zum LKA Baden-Württemberg, Abteilung 610 [Staatsschutz] abgeordnet. Die Zeugin berichtet, dass zu dieser Zeit die rechte Szene in Baden-Württemberg näher beleuchtet werden sollte, um das Gefahrenpotenzial besser einschätzen zu können. Sie kam kurz nach ihrem Antritt beim LKA zur Ermittlungsgruppe „Der harte Kern“ [Chatgruppe um Marion G., über die das LKA auf die „Gruppe S“ aufmerksam wurde]. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter war Michael K. Nach einem Personalausfall aufgrund einer Erkrankung war sie ab Januar 2020 in der Auswertung tätig. Am 14. Februar 2020, dem Tag der Razzia gegen die „Gruppe S“, war sie an der Hausdurchsuchung beim Beschuldigten Thorsten W. in Hamm beteiligt. Ihre Aufgabe bestand darin, die Asservatenlisten zu führen und die Asservate zu beschriften und zu verpacken.
Die Frage, warum sie zur Hausdurchsuchung bei Thorsten W. eingeteilt war, kann die Zeugin nicht beantworten. Sie war in den Ermittlungen nicht auf einen Angeklagten spezialisiert und war nur „grob eingewiesen“ zum Beschuldigten.
Thorsten W. wirkte „sehr sehr still“
Während der Durchsuchung saß die Zeugin im Esszimmer. Sie habe die Asservate sortiert, verpackt und beschriftet, berichtet sie auf Frage des VR. Wenn es einen Leerlauf gab, habe sie sich in der Wohnung umgesehen, jedoch nicht selbst durchsucht. Die Belehrung des Angeklagten habe ihre Kollegin Maren S. übernommen. Die Zeugin gibt an, dass Maren S. die Asservate in eine Liste eingetragen habe. Als sie die Formulare im Gericht an die Wand projiziert bekommt, erkennt sie ihre eigene Handschrift wieder. Ihre Kollegin habe Ergänzungen vorgenommen. Die Zeugin erinnert sich daran, dass der Dienstausweis und der Schlüssel des Beschuldigten Thorsten W. [Angestellter bei der Polizeidirektion Hamm] nach Dortmund mitgenommen worden seien.
Der VR greift den Einsatz des SEK auf und fragt die Zeugin, ob ihr von der Hausdurchsuchung Besonderheiten oder Auffälligkeiten im Gedächtnis geblieben sind. Die Zeugin verneint. Das SEK habe den Ermittler*innen mitgeteilt, dass Thorsten W. die Tür geöffnet habe und sich widerstandslos festnehmen ließ. [Thorsten W. selbst berichtete von Gewalt und Schmerzen.] W. wies ihrer Erinnerung nach keine Verletzungen auf und habe ihr gegenüber auch nicht über Schmerzen oder Befindlichkeiten geklagt. Was der Zeugin auffiel: „Er war sehr sehr still.“ Sie habe nicht wirklich mitbekommen, dass der Beschuldigte W. gesprochen habe, außer mit ihrer Kollegin Maren S.
NS-Bilder bei Thorsten W.
Der VR lässt ein Foto von der Hausdurchsuchung zeigen. Zu sehen sind zwei Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf“, weitere Bücher und Militärminiaturen. Er fragt die Zeugin, wo das Foto aufgenommen wurde, doch sie ist sich unsicher. Es könnte das Büro sein. Ob das Bild die Auffindesituation zeigt oder etwas anderes, kann sie nicht sagen. [Thorsten W. gab am vierten Prozesstag an, dass er Hitlers Bücher nicht so auffällig drapiert habe.]
Als nächstes lässt der VR ein Bild auflegen, das ein Plakat zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zeigt. Abgebildet ist der Kopf Adolf Hitlers in einer schädelartigen Darstellung. Auf dem Plakat ist zu lesen: „Nürnberg schuldig!“ Rechtsanwalt (RA) Kist erklärt, dass sein Mandant Thorsten W. mit dieser Inaugenscheinnahme verdeutlichen möchte, dass er nicht nur im Besitz NS-verherrlichender Bilder war, sondern auch Bilder besaß, die den NS kritisch sahen. Bei der Hausdurchsuchung seien jedoch nur die NS-verherrlichenden Bilder fotografiert worden [von denen es zahlreiche gab, siehe Berichte zum 3. und 4. Prozesstag]. Auf die Frage des VR, ob die Zeugin das Bild in der Wohnung gesehen habe, antwortet diese, dass sie sich nicht hundertprozentig sicher sei. Es komme ihr aber nicht bekannt vor.
Der VR lässt ein weiteres Bild auflegen. Auf diesem sind drei selbstgemalte Plakate mit SS-Bezug zu sehen, die um 11.46 Uhr im Büroschrank gefunden wurden. An das SS-Bild kann sich die Zeugin erinnern.
Thorsten W. soll sich am Umgangston, nicht an den Themen der Gruppe gestört haben
Der VR geht im Folgenden auf Thorsten W.s Verhör vom 14. Februar 2020 in Dortmund ein. Die Zeugin war beim Verhör zugegen. Der VR befragt sie nach ihrer Rolle beim Verhör und ob sie sich an Details zu Aussagen von W. erinnern könne. Frau S. erklärt, sie habe keine Rolle bei der Vernehmung gehabt. Maren S. habe die Vernehmung durchgeführt. Die Schreibkraft habe möglichst wortgetreu mitgeschrieben. An einer Stelle – Thorsten W. hatte einen Einblick in sein Handy gegeben – habe Maren S. der Schreibkraft etwas diktiert. Neben ihr sei noch ein weiterer Polizeibeamter aus Dortmund dabei gewesen. Thorsten W.s Aussagen könne sie grob einordnen, weil Maren S. sie zuvor über die Ermittlungen instruiert habe. Sie würde sich aber nicht anmaßen, den Überblick zum Verfahren gehabt zu haben. Das sei ohnehin schwierig. Im Kopf geblieben sei ihr die Aussage von Thorsten W., dass er in etwas reingerutscht sei, in das er nicht habe reinkommen wollen. Er habe angegeben, dass er davon ausgegangen sei, es handle sich um Mittelalter-nahe Leute. Ebenso sei ihr eine Aussage W.s in Erinnerung, nicht die Themen, sondern der Umgangston in der Gruppe sei schlimm gewesen.
Thorsten W. habe kein Geld zur Verfügung stellen wollen
Der VR greift einen Punkt aus dem Vernehmungsprotokoll auf. Darin steht, dass nach einer Pause eine Seite des Protokolls fehlte. Die vernehmende Beamtin Maren S. versuchte deshalb, die vor der Pause angesprochenen Themen in ihren Fragestellungen wieder einzubinden. Es ging dabei auch um das Treffen in Minden knapp eine Woche zuvor und die Frage nach den finanziellen Mitteln, die Thorsten W. ins Gespräch gebracht habe. Zur Frage, wozu beim Treffen in Minden Geld gesammelt wurde, blieb Thorsten W. vage. Er betonte, dass er vermute, dass damit Waffen beschafft werden oder ein Unterschlupf gebaut werden könnte. Thorsten W. habe im Verhör außerdem betont, dass er über Geldmittel in Höhe von 2.000 Euro verfüge, aber dieses Geld nicht zur Verfügung stellen wollte. W. schilderte die Situation in Minden während des Verhöres so, dass ein Großteil gesagt habe, sie hätten kein Geld, und er auch nur ein bisschen. Das „Gequassel“ sei im Sande verlaufen, als die Leute merkten, dass nicht rauskam, was sie sich erhofften.
Der VR interessiert sich anschließend für die Frage, wie es zur Entscheidung kam, Thorsten W. dem Haftrichter vorzuführen. Die Zeugin erzählt, dass sich das während der Hausdurchsuchung herauskristallisiert habe. Während der anschließenden Vernehmung habe es mehrere Anrufe aus Baden-Württemberg gegeben, bei denen es um den Transport des Beschuldigten nach Karlsruhe gegangen sei. Thorsten W. sei dann zum Flughafen Porta Westfalica gebracht worden und von dort mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe.
Der Zeuge Sven G. sagt nicht aus
Der VR wird darauf aufmerksam gemacht, dass im Flur der Zeuge Sven G. aus Schönebeck/ Elbe sitze. Da der Zeuge bereits im Vorfeld angekündigt hat, keine Aussage zu machen, schiebt der VR die Vernehmung dieses Zeugen mit Einverständnis der anderen Prozessbeteiligten dazwischen. Es folgt die Belehrung des Zeugen (40). Der Tätowierer macht von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch und verlässt nach wenigen Minuten wieder den Gerichtssaal. Bei der Frage nach Erklärungen zum Zeugen meldet sich Michael B.s RA Mandic, der keine Frage zum Zeugen G. hat, aber die Durchsuchungsniederschrift der Zeugin S. in Augenschein nehmen möchte. Seiner Meinung nach täusche die Beamtin Akribie vor.
Fragen der Verteidigung an die Zeugin S.
Der VR gibt den anderen Prozessbeteiligten die Möglichkeit, Fragen zu stellen. RA Kist macht als Erster davon Gebrauch. So fragt er die Zeugin in Zusammenhang mit den aufgefundenen Ausgaben von „Mein Kampf“, wo genau die Fotos aufgenommen worden seien: im Büro oder im Wohnzimmer? Die Zeugin gibt an, sich nicht mit Gewissheit daran zu erinnern, weil sie selbst nicht durchsucht habe. Sie könne nur vermuten, dass die Fotos im Büro aufgenommen wurden, weil sie von dort viele Asservate gebracht bekam.
Marcel W.s RA Picker greift eine Gesprächsnotiz der Zeugin vom 7. Mai 2020 von einem Telefonat mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz über das „Freikorps Deutschland“ auf. Das Telefonat habe laut Notiz am 27. April 2020 stattgefunden. Die Zeugin macht klar, dass sie sich für die heutige Befragung nicht auf das Thema „Freikorps Heimatschutz“ vorbereitet habe. Sie könne aber sagen, dass sie zu diesem Zeitpunkt den Auftrag erhalten habe, die Gruppierung aufzudecken. Dazu habe es gehört, die Erkenntnisse aller deutschen Behörden zur Gruppierung abzufragen. Das Gespräch habe zehn Minuten gedauert.
RA Mandic fragt, wie die Zeugin zur Ermittlungsgruppe „Der harte Kern“ gekommen sei, nachdem sie dort zunächst nicht eingesetzt war. Die Zeugin erklärt, dass sie nach der Einführungswoche Kolleg*innen zugewiesen wurde. Ihre Aufgabe sei gewesen, Personen in sozialen Netzwerken ausfindig zu machen. Über eine Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz könne sie keine Angaben machen, weil so etwas Aufgabe ihrer Vorgesetzten sei.
Der VR entlässt die Zeugin unvereidigt.
Ralf N. von der „Bruderschaft Deutschland“ gibt sich vor Gericht wortkarg
Anschließend wird der Zeuge Ralf N. aus Düsseldorf vernommen. [Sein Name tauchte bereits mehrfach in Zeugenvernehmungen und angehörten Telefonaten auf. Ralf N. gilt als einer der Anführer, sogar als zentrale Figur der extrem rechten Gruppierung „Bruderschaft Deutschland“.] Der VR belehrt ihn über seine Rechte und Pflichten und darüber, dass ein Zeuge die Aussage verweigern darf, wenn er sich selbst belasten würde. Der VR erklärt, dass der Senat die Situation so einschätze, dass N. sich mit jeder Antwort auf jede Frage selbst in Schwierigkeiten bringen könnte.
„Ich mache keine Aussage“, entgegnet Ralf N. So gibt es von ihm auch keine Antwort auf die Frage von Markus K.s RAin Schwaben, die ihn nach Kontakten zur Polizei, zu polizei-ähnlichen Behörden oder zum Verfassungsschutz insbesondere ab Anfang 2019 fragt. Der Zeuge wird vom VR unvereidigt entlassen und verlässt wortlos den Gerichtssaal.