Am 22. November 2022 fand der 102. Prozesstag gegen die „Gruppe S“ in Stuttgart-Stammheim statt. Der Kriminalhauptkommissar Tino T. sagte aus Zeuge aus. Er hatte am 29. April 2019 in Heilbronn die erste Vernehmung von Paul-Ludwig U. durchgeführt. U. hatte sich drei Tage zuvor bei der Polizei gemeldet, um von seinen Kontakten in rechten Facebook-Gruppen zu berichten. Bereits bei dieser ersten Vernehmung Ende April 2019 hatte Paul-Ludwig U. von geplanten Treffen und geplanten Anschlägen erzählt. Diese Angaben betrafen aber noch nicht die Angeklagten der späteren „Gruppe S“, sondern Jonny L. aus Gießen und Wolfgang J. aus Aschaffenburg. Laut U. plante Wolfgang J. Anschläge auf Moscheen. Außerdem wolle man beim Freitagsgebet so viele „Moslemschweine“ wie möglich töten. Paul-Ludwig U. wollte sich bereits am 30. April 2019 mit Wolfgang J. in Aschaffenburg treffen und dann am 1. Mai mit diesem zu Jonny L. nach Gießen weiterfahren. Laut dem Zeugen wurde U. ausdrücklich darauf hingewiesen, keinen Auftrag zu haben. Der Zeuge gab zudem an, er habe sich am 10. September 2019 mit Paul-Ludwig U. getroffen und die Daten von seinem Handy gesichert. Bei einer Vernehmung von U. am 17. September 2019 habe er zudem eine Spiegelung eines Telegram-Kanals eingerichtet. Die Überwachung des Telegram-Kanals fand bis zum 24. Februar 2020 statt. Nach der Aussage dieses Zeugen sagte auch U. selbst vor Gericht weiter aus und ergänzte seine Angaben vom vorigen Prozesstag. Er habe auch nach Beginn seiner zeugenschutzähnlichen Maßnahme Kontakt mit dem LKA-Beamten Michael K. gehabt. Weiter kündigte Paul-Ludwig U. an, dem Gericht ein Handy auszuhändigen, das sich vom 1. Februar bis Juli 2020 in seinem Besitz befunden habe. Darauf habe er die Sachen von Michael K. auf dessen übermittelte Anweisung gelöscht. K. habe ihn aufgefordert, den Kontakt abzubrechen, weil es nicht gut aussehen würde, wenn der leitende Ermittlungsbeamte weiter Kontakt zu ihm hätte. U. ergänzte, er habe sein Handy aber nicht auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt. Er hoffte, man könnte etwas rekonstruieren. Das letzte Gespräch mit K. sei im Mai 2020 gewesen. Dieser habe ihn an etwas erinnert, das er ihm zuvor bereits gesagt habe: Wenn der Prozess platzt, „dann wären 300 Beamten auf mich sauer“.
Zu Beginn dieses Prozesstags ruft der Vorsitzende Richter (VR) den Zeugen Toni T. herein. Dieser stellt sich kurz vor: Er sei seit 2007 Polizist, 35 Jahre alt, und arbeite als Kriminalhauptkommissar in Heilbronn. Er sei bei der Vernehmung von Paul-Ludwig U. am 29. April 2019 anwesend gewesen, die sein Kollege H. geführt habe. Paul-Ludwig U. habe sich am 26. April 2019 beim Revier Mosbach gemeldet. Der VR ergänzt, dass Paul-Ludwig U. sich an die Polizei Heilbronn gewendet habe. Der Zeuge fährt fort: Man habe die Vernehmung nach einem Vorgespräch in Mosbach um 10 Uhr nach Heilbronn verlegt. Dort habe die Befragung von 11.30 bis 15.30 Uhr gedauert. Er erinnere sich nicht an eine Pause.
Das erste Verhör von Paul-Ludwig U.
Anschließend gibt der Zeuge U.s Aussage aus der Vernehmung wieder: U. habe über Facebook-Gruppen Kontakte in die rechte Szene erhalten, die ihn kennenlernen wollten. Er gibt an, Paul-Ludwig U. habe von seiner Vita [mit vielen Vorstrafen, u.a. Geiselnahme, und langen Gefängnisaufenthalten] erzählt und von Kontakten zu anderen Polizeibeamten. Paul-Ludwig U. habe ihm und seinem Kollegen auf dem Smartphone Facebook-Gruppen gezeigt und er (Toni T.) habe sie als „Sicherungsmaßnahme“ abfotografiert. Er habe auch die Anrufliste von Paul-Ludwig U. mit Wolfgang J. abfotografiert.
Zu Beginn sei Paul-Ludwig U. belehrt worden, auch über sein Zeugnisverweigerungsrecht. Kernbotschaft von U. sei gewesen, dass er über einen Freund, „dessen Namen er aus verschiedenen Gründen nicht nennen möchte“, eine Einladung in die Facebook-Gruppe „Die Unbeugsamen“ mit 2.800 Mitgliedern erhalten habe. Der Gruppe gehöre er seit eineinhalb Wochen an. Sie sei kritisch gegenüber der Asylpolitik eingestellt. Er habe Kontakte zu einzelnen Mitgliedern bekommen. Ein Wolfgang J. habe sich gemeldet, und sie hätten über WhatsApp und Telefon kommuniziert.
So viele „Moslemschweine“ wie möglich töten
Den Kontakt zu J. habe U. folgendermaßen beschrieben: J. habe gefordert, man müsse gegenüber Moslems aktiver werden. Man wollte sich aber erst einmal treffen. Es sollten Anschläge auf Moscheen verübt werden. Man wolle beim Freitagsgebet so viele „Moslemschweine“ wie möglich töten. Außerdem wolle man die „islamistischen Gefährder“ ausfindig machen und ermorden. Es solle ein Treffen mit Wolfgang J. und einem Frank in Aschaffenburg geben, und dann wolle man weiter nach Hessen fahren, um am 1. Mai Jonny L. und Klaus E. zu treffen. Der Zeuge betont, man habe U. „auf keinen Fall gesagt, dass er da hinfahren soll“, sondern ihn mehrfach darauf hingewiesen, dass er sich mit einer Teilnahme strafbar machen könnte. Auch sein Kollege H. habe U. mehrmals informiert, dass er keinen Auftrag habe und er keine Straftaten begehen solle.
Der VR zitiert aus der Vernehmung: „Nach dem dritten oder vierten Gespräch sei Wolfgang J. konkreter geworden und er [Paul-Ludwig U.] habe Interesse signalisiert (‚nicht abgeneigt‘).“
Der Zeuge erinnert sich auch, dass Paul-Ludwig U. ihnen die E-Mail ans Bundesamt für Verfassungsschutz gezeigt habe. [U. schrieb der Behörde eigenen Angaben zufolge vor seinem Kontakt zum LKA, dass er Informationen über gefährliche rechte Gruppierungen habe.] Die hätten sich aber nicht gemeldet. Ebenso habe sich U. an einen Verantwortlichen von einer örtlichen Moschee gewandt. Der habe die Informationen über ein Konsulat an die türkische Regierung weitergegeben.
Zeuge: U. war „sprunghaft“ und mochte die Aufmerksamkeit
Paul-Ludwig U. sei „sprunghaft“ gewesen und habe immer wieder Dinge wiederholt. Er habe gewirkt, als gefalle ihm die Aufmerksamkeit der Polizei. U. habe seine Tätigkeit wohl als eine Art Wiedergutmachung verstanden. Ebenso habe er gesagt, er wolle nicht, dass Menschen zu Schaden kommen. Vertraulichkeit oder einen besonderen Schutz habe Paul-Ludwig U. nicht gefordert.
Das Verhör habe 14.15 Uhr geendet. Dann habe man das Protokoll ausgedruckt, unterschreiben lassen und Paul-Ludwig U. nach Mosbach zurückgefahren. Später habe U. erzählt, dass sich bei ihm in den Tagen nach diesem Heilbronner Verhör der Verfassungsschutz gemeldet habe.
Weiter berichtet der Zeuge, er habe U. am 10. September 2019 erneut getroffen und dabei die Daten von U.s Handy sichern lassen. Außerdem habe er eine Telegram-Überwachung eingerichtet.
Weitere Fragen an den Zeugen
Der psychiatrische Sachverständige Dr. Winckler fragt, was er über die Biografie von Paul-Ludwig U. gewusst habe. Der Zeuge erwähnt eine Reportage [des WDR über U.s Entlassung aus der Sicherungsverwahrung], von der U. ihm selbst erzählt und die er angeschaut habe. Der Zeuge betont, er habe bei U. keine Anzeichen für psychische Auffälligkeiten bemerkt.
Thorsten W.s RA Kist fragt den Zeugen, ob er eine konkrete Anschlagsplanung in einem Chat gelesen habe. Tino T. erwidert, die Nachrichten seien „eher allgemein gehalten“ gewesen. U. selbst habe behauptet, von Anschlagsplänen habe er in WhatsApp-Nachrichten erfahren.
Marcel W.s RA Picker möchte wissen, ob U. etwas darüber sagt, wie man Gefährder angeblich aufspüren wollte. Der Zeuge verneint.
Markus K.s RAin Schwaben fragt, wie oft er U.s Handy in den Händen gehalten habe. Der Zeuge listet vier Situationen auf: am 29. April sowie am 10., 17. und 20. September 2019. Er habe es zweimal gespiegelt, am 10. und am 20. September. Am 29. April habe er Dinge vom Bildschirm abfotografiert und am 17. September eine Telegram-Überwachung installiert. Er sei Cybercrime-Sachbearbeiter.
Michel B.s RA Berthold fragt nach U.s Smartphone. Der Zeuge erinnert sich nicht. Er gibt auch an, keine Programme aufgespielt zu haben.
So lief die Überwachung der Chatgruppen technisch ab
Der Angeklagte Frank H. fragt, ob er Namens- oder Kontaktlisten im Zusammenhang mit Wolfgang J. auf dem Handy gesehen habe. Der Zeuge verneint das.
RA Kist fragt nach dem Beschluss vom 14. September 2019 zur Telegram-Überwachung. Auch Werner S.‘ RA Siebers fragt, was mit dem Handy gemacht worden sei. Nach einigem Hin und Her, ob die vom Zeugen vorgenommenen technischen Maßnahmen am Handy von dessen Aussagegenehmigung gedeckt werden, unterbricht der VR, damit der Zeuge nachfragen kann. Anschließend erklärt der Zeuge, er habe am 17. September 2019 eine Telegramkanal-Überwachung auf U.s Handy eingerichtet.
Dazu passend liest der VR ein Schreiben des BKA aus den Akten vor: Die Überwachung des Telegram-Kanals habe vom 17. September 2019 bis 24. Februar 2020 stattgefunden. Es sei dafür ein zweiter Kanal mit 1:1-Übertragung geöffnet worden. Mit dieser Methode könne man in Echtzeit überwachen. Dafür habe er einen Code über das Handy von Paul-Ludwig U. abgerufen. Danach habe es keine Verbindung zwischen dem Gerät des Angeklagten und dem Gerät des BKAs mehr gegeben. Er habe den Code abgerufen, dem BKA mitgeteilt und die SMS wieder gelöscht. Anschließend wird Tino T. entlassen und Paul-Ludwig U. setzt seine Aussage fort.
Paul-Ludwig U. sagt weiter aus
U. ergänzt seine Aussage vom 17. November 2022: Michael K. habe auch nach dem Beginn der zeugenschutzähnlichen Maßnahme am 11. Februar 2020 Kontakt mit ihm gehabt. Michael K. habe ihn zweimal angerufen, er Michael K. einmal. Paul-Ludwig U. habe ihn gefragt, wie die ganzen Akten-Informationen in die Presse gekommen seien. [Vermutlich meint er vor allem die Artikel von Franz Feyder über Kinderpornografie-Funde bei Paul-Ludwig U.]
Paul-Ludwig U. kündigt außerdem an, am Donnerstag ein Handy, das sich vom 1. Februar bis Juli 2020 in seinem Besitz befunden habe, dem Gericht aushändigen zu lassen. Darauf habe er die Sachen von Michael K. auf dessen über Herr W. übermittelte Anweisung gelöscht. Man habe ihn dazu aufgefordert, den Kontakt einzustellen, weil es nicht gut aussehen würde, wenn der leitende Ermittlungsbeamte weiter Kontakt zu ihm hätte. U. betont erneut, er habe das Handy nicht auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt; vielleicht lasse sich ja etwas rekonstruieren.
Er und Michael K. hätten auch über Optionen gesprochen, dass der Prozess platzen könnte. Das letzte Gespräch mit K. sei im Mai 2020 gewesen. Dieser habe ihm gesagt, er solle nicht vergessen: Wenn der Prozess platze, „dann wären 300 Beamten auf ihn sauer“.
U. ist überrascht von der Kritik der LKA-Beamtin S.: Früher sei „alles super, alles perfekt“ gewesen
U. möchte außerdem noch etwas zur vorletzten Vernehmung der LKA-Beamtin Maren S. sagen: Sie hätte ausgesagt, dass U. etwas aufgebauscht habe. U. betont, das habe ihn verwundert, da in all seinen Vernehmungen „nie etwas in die Richtung gesagt“ worden sei. Es habe immer nur Schulterklopfen gegeben, „alles super, alles perfekt“. Er habe über 300 E-Mails verschickt, und nie sei jemand gekommen und habe ihn in seiner Wahrnehmung korrigiert. Er hätte moralisch erwartet, dass man ihn über Zweifel informieren und sich alles gemeinsam anschauen würde.
Michael K. habe er, so U., am Telefon wegen des BMW [Verfolgung auf Rückfahrt von Minden] angesprochen. Der habe es abgestritten, aber am 11. Februar 2020 bei der Fahrt zum Treffen in Fellbach wegen des Zeugenschutzes zugegeben, dass er das Fahrzeug geschickt habe. Michael K. habe eingeräumt, das sei „blöd gelaufen“.
Der VR verkündet, am Donnerstag mit der Vernehmung von Paul-Ludwig U. fortzufahren. Zum Abschluss dieses Verhandlungstags kritisiert er Beschwerden gegen den Senat und seine Begründung, warum Steffen B.s Haft nicht ausgesetzt wird. [Mehrere Verteidiger*innen hatten sich beschwert, dass in der Begründung eine Art Geständnis-Wunschvorgabe stehe.] Der VR argumentiert mit einem hinreichenden Tatverdacht und betont die Pflicht des Senats, die Haftgründe zu jedem Zeitpunkt zu prüfen. Außerdem weist er darauf hin, dass fünf der Haftbefehle inzwischen außer Vollzug, aber nicht aufgehoben seien. Dass der Antrag auf Haftaussetzung für Steffen B. abgelehnt wurde, sei keine Voreingenommenheit. Er habe die Ablehnung ausführlich begründet.