Am 33. Prozesstag, 30. September 2021, konnten die Bundesanwaltschaft, die Verteidigung und die Angeklagten Fragen an die Zeugin D. stellen. Diese hatte 2003 den Angeklagten Paul-Ludwig U. begutachtet. In der Befragung durch die Verteidiger*innen zeichnete D. das Bild eines Probanden, der nicht besonders auffällig gewesen sei. Er habe im normalen Rahmen versucht, seine Interessen durchzusetzen. Dabei gehe es U. vor allem um die Befriedigung seines Geltungsbedürfnisses. Im weiteren Verlauf des Prozesstages wurden Aufnahmen von der Telekommunikationsüberwachung aus der Zeit nach dem Treffen in Minden am 8. Februar 2020 abgespielt. Dabei wird das Misstrauen der Mitangeklagten gegenüber Paul-Ludwig U. deutlich. U. wurde in Abwesenheit aus der „Gruppe S“ verbannt und sämtliche Kommunikation gelöscht. Werner S. war höchst frustriert darüber, dass mehrere Jahre Aufbauarbeit umsonst gewesen seien. Er wie auch Tony E. wollten sich erst einmal zurückziehen, hielten aber offenbar an ihren Plänen fest.
Der Vorsitzende Richter (VR) verweist auf eine Angabe der Zeugin Dr. W., die den Angeklagten Werner S. in der Vergangenheit begutachtet hat. Die Zeugin gebe an, sich an nichts mehr erinnern zu können. Daher lasse man die Zeugin nicht extra aus Bayern anreisen, sondern beschränke sich darauf, ihr Gutachten zu verlesen.
Für den heutigen Tag ist die Zeugin Dr. D. erneut geladen. Sie war Gutachterin des Angeklagten Paul-Ludwig U. während seiner Haftzeit Anfang der 2000er Jahre. Nach der Belehrung durch den VR gibt die Zeugin an, weiterhin unbefangen zu sein. Sie habe nur im Internet nachgelesen, wie weit der Prozess fortgeschritten sei. Nachdem der Senat die Zeugin am vorherigen Prozesstag befragt hat, haben heute die weiteren Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Davon machen die Vertreterinnen der Bundesanwaltschaft (BA), einige Verteidiger*innen und alle Angeklagten keinen Gebrauch.
Versuchte Paul-Ludwig U., die Zeugin im Vorfeld telefonisch zu beeinflussen?
Weil die Anklagebehörde auf die Möglichkeit verzichtet, die Zeugin zu befragen, beginnt RA Herzogenrath-Amelung mit der Befragung. Den Verteidiger von Frank H. interessiert, ob sich die Zeugin an Schilderungen des Angeklagten U. zu Diebstählen erinnern könne, und wer davon betroffen gewesen sei. Die Zeugin kann sich grob daran erinnern, dass das Thema Diebstahl in der Begutachtung aufgekommen sei. An Einzelheiten könne sie sich jedoch nicht erinnern, ohne dies mit dem Gutachten durcheinander zu bringen. Eine Schilderung habe die Jugend des Angeklagten U. betroffen, in der er als Kind von einem Familienangehörigen bestohlen worden sei. Er sei in diesem „dissozialen Verhalten“ aufgewachsen.
Im Fragefokus der Verteidigung liegt auch ein Anruf des Angeklagten Paul-Ludwig U. vor der Vernehmung der Zeugin im Prozess. Die Frage von Wolfgang W.s Verteidiger RA Grassl, ob sich U.s Drohung, sie zu verklagen [siehe dazu Prozesstag 32], auf ihr Antwortverhalten auswirke, verneint die Zeugin. „Wieso sollte es das?“, fragt sie zurück.
Werner S.‘ Verteidiger RA Siebers greift eine Aussage der Zeugin aus der Vernehmung durch den Senat vom vergangenen Prozesstag auf. Die Zeugin schrieb U. Intelligenz und eine gute Beobachtungsgabe zu. Der RA möchte wissen, ob U. diese Fähigkeit bei seinem Gegenüber dergestalt anwende, um daraus Wünsche des Gesprächspartners abzuleiten, die er in seinem Sinne nutzen könne. Dr. D. schätzt U. so ein, dass er „aus seiner Biografie heraus eine gute Beobachtungsgabe“ habe. Er nutze diese jedoch nicht, um über Schwächere Macht auszuüben. RA Berthold, Verteidigung von Michael B., interessiert sich für eine Formulierung aus ihrem Gutachten, in dem sie U.s Intelligenz als durchschnittlich bis überdurchschnittlich einschätzt. Der RA fragt, ob sie die Art der Intelligenz, beispielsweise soziale oder mathematische Intelligenz, genauer beschreiben könne. Die Zeugin verneint. Diese Formulierung beschreibe ihren Gesamteindruck.
Über Geltungsbedürfnis und Manipulation
Das Interesse einzelner RA*innen im Zusammenhang mit dem Thema Intelligenz gilt der Frage, inwiefern U. diese Fähigkeiten manipulativ eingesetzt haben könnte. RA Siebers möchte wissen, ob Paul-Ludwig U. versucht habe, gewisse Eitelkeiten auszunutzen und gezielt das angesprochen habe, von dem er ausging, dass man es von ihm hören wollte. RA Picker, Verteidiger von Marcel W., fragt zudem, ob U. versucht habe, Institutionen für seine Zwecke einzuspannen. Die Zeugin verweist auf die Begutachtungssituation, in der es nicht ungewöhnlich sei, dass Probanden bestimmte Wünsche und Vorstellungen zu erreichen versuchen. Auf die Frage, ob U. sich im Gespräch Vorteile verschaffen wollte, erwidert die Zeugin, er habe eine Kontrolle gesucht. In seiner Biografie habe er Ohnmachtserfahrungen gemacht. Sein Ziel sei es gewesen, sein Geltungsbedürfnis durchzusetzen. Zu Teilen könne sie sich auch daran erinnern, dass U. versucht habe, Institutionen wie die forensische Unterbringung für sich zu beeinflussen.
Auf die Frage von RA Herzogenrath-Amelung, ob der Angeklagte U. sich habe größer machen wollen als er ist, ordnet die Zeugin ein solches Verhalten als allgemein nicht ungewöhnlich ein. „Klar, er hat ein Geltungsbedürfnis.“ Bei der von Vernachlässigung geprägten Biografie von U. sei es nachvollziehbar, dass er Aufmerksamkeit wolle. Es sei ihr nicht immer ganz leicht gefallen zu unterscheiden, was authentisch und was von ihm ausgestaltet gewesen sei. Auf die Frage von RA Berthold, ob U. über seine wahren Ziele hinwegtäuschen wollte, um sie auf einem Umweg zu erreichen, antwortet die Zeugin, dass das fast jeder forensische Patient und auch generell fast jeder Mensch könne.
Inszenierungskunst als Ausdruck von Beziehungswünschen
Michael B.s Verteidiger RA Mandic greift eine Aussage der Zeugin aus der Befragung durch den Senat auf. Vorgestern habe sie gesagt, U. habe etwas „Verschmitztes“. Heute aber sage sie, er habe nichts „Verschlagenes“. Für ihn klinge das unstimmig. Die Zeugin erklärt RA Mandic, dass dies zwei unterschiedliche Dinge seien. U. habe eine kindliche Gestalt und immer etwas in petto, um sich interessant zu machen. Verschlagenheit unterscheide sich hiervon durch Macht und Kontrolle, mit denen man genau schaue, wie man jemandem auf hohem Niveau austricksen könne. Das habe sie bei U. nicht erkennen können.
Auf eine Nachfrage von RA Mandic, bei der er auf alltägliche Lügen des Angeklagten U. abheben möchte, kontert die Zeugin: „Ich finde Ihre Frage gerade sehr manipulativ“. Sie bittet darum, die Frage umzuformulieren. Auf die anschließende Frage, ob sich U. im Alltag durch Beobachtung dahingehend weiterentwickelt habe, dass er andere Menschen, auch die Gutachterin, habe besser einschätzen können, verweist die Zeugin auf die unterschiedlichen Settings, in denen sich ein Proband bewegt. Die Probanden könnten sich angesichts wechselnder Therapeuten und Therapien nicht permanent verstellen. Mit den Eindrücken unterschiedlicher Beobachter könne man die Entwicklung von Probanden ganz gut beschreiben.
Zeugin betont, sie könne nur über den U. von 2003 sprechen
Auch RA Picker greift eine Aussage der Zeugin vom vorangegangenen Dienstag auf, als sie U.s Agieren als „dramatisch“ beschrieb. Der RA möchte ihre Einschätzung zur Frage hören, ob „Inszenierungskunst“ ein Persönlichkeitsmerkmal von U. sei. Dr. D. verweist darauf, dass sie nicht wisse, wie sich U. seit der Begutachtung weiterentwickelt habe. Bezüglich der damaligen Begutachtungssituation wolle sie eher von einer „Re-Inszenierung“ eines in seiner kindlichen Entwicklung verletzten Menschen, der gesehen werden wolle, sprechen. Es seien „Beziehungswünsche, die sich da Bahn gebrochen haben“, wobei sich das mit der Zeit ändern könne.
RA Picker hält der Zeugin aus einem Gutachten eine Passage vor, in der es heißt: „Hierbei laufe er auch Gefahr, Grenzen zwischen realer Welt, Anspruchsdenken und schlichter Inszenierung zu verwischen“, sodass das Interesse Dritter der Motor sei, der ihn antreibe. Er fragt die Zeugin, ob das auch ihr Eindruck gewesen sei. Die Zeugin verneint das, sie habe U. zu einer anderen Zeit kennengelernt. Oft komme es vor, dass sich das Verhalten ändere, wenn jemand neu eingewiesen wird. Auf RA Pickers Frage, ob sich denn U. krankheitseinsichtig gezeigt habe, antwortet die Zeugin, dass dies in Teilen zuträfe. Sein damaliger Oberarzt K. habe ihr die Rückmeldung gegeben, dass Paul-Ludwig U. ein sehr zuverlässiger Patient gewesen sei. U. sei es jedoch wichtig gewesen, dass man nicht das Label „Therapie“ auf ihn anwende. Wenn man etwas neutraler an ihn herangetreten sei, dann habe es eine Entwicklung innerhalb seines Erlebens gegeben. So sei ihm zum Beispiel eine Ausbildung wichtig gewesen.
Markus K.s Verteidigerin RAin Schwaben möchte von der Zeugin wissen, wie sie die häufigen Wechsel zwischen Justizvollzugsanstalt (JVA) und Forensik in U.s Lebenslauf sehe. Sie habe das so verstanden, dass er in die Forensik wollte, sobald er in der JVA war, und umgekehrt. Die Zeugin kann sich daran nicht erinnern. Nach der Geiselnahme habe er die Forensik verlassen wollen und sie als verbrannte Erde betrachtet. Er habe den Wunsch nach Stabilisierung geäußert und eine weitere Therapie abgelehnt. Eine mangelnde Freiwilligkeit stünde aber dem therapeutischen Setting entgegen, so dass in solchen Fällen die Wiederaufnahme des Maßregelvollzugs in Betracht gezogen würde.
Keine politischen Diskussionen
Wie hat sich der Angeklagte U. in der damaligen Zeit zu Muslimen und über den Islam geäußert? Diese Frage wirft RA Grassl in den Raum. Die Zeugin kann sich nicht daran erinnern, dass dies ein Thema gewesen wäre. Viele Patienten würden in der Forensik ihr brüchiges Selbstverständnis durch eine sehr nationale Einstellung kompensieren. Ein Vaterland zu haben sei ein stabilisierender Faktor, der ihnen nicht genommen werden könne. Das sei eine Selbsterhöhung bei gleichzeitiger Abwertung anderer. Mit U. habe es keine politischen Diskussionen gegeben, obwohl sie U. zusprechen würde, dass er sich politisch auf dem Laufenden gehalten haben könnte. Auch an Aussagen zu etwas so „Außergewöhnlichem“ wie die Antifa kann sie sich nicht erinnern.
RA Mandic hakt nach, ob es einen „Hass auf Ausländer“ gegeben habe. U. habe beschrieben, er sei mit 11,5 Jahren von einem im Dorf lebenden Türken missbraucht worden. Die Zeugin erinnert sich, dass die Tat eine Bedeutung gehabt habe, es aber keinen Unterschied im Missbrauchsablauf mache, woher der Täter komme. U. habe die Vergewaltiger allgemein „die Viecher“ genannt, und der Kontakt in der Forensik mit solchen Tätern habe ihn aufgewühlt. Täter ausländischer Nationalität habe es für ihn nicht gegeben, sondern Täter.
Die Zeugin sieht keinen Grund zum Zweifeln an ihrem Gutachten
RA Mandic liest eine Definition der „Borderline“-Störung vor und fragt, ob das auf U. anwendbar gewesen sei. Die frühere Gutachterin verneint dies. So pauschal passe der Satz nicht. Borderline sei ein Anteil am Gesamtbild, jedoch nur einer unter mehreren. Da das Gutachten über 17 Jahre zurückliegt und der Begutachtungszeitraum rund ein Jahr betrug, betrachten einige Verteidiger*innen die Aussagekraft des Gutachtens kritisch. Bei Fragen zum Begutachtungszeitraum und der allgemeinen Einschätzung zur Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten U. verweist der VR auf die Fragen und Antworten des vorherigen Prozesstages.
RA Siebers greift die Selbsteinschätzung der Zeugin auf einer Skala von 1 bis 10 zu ihrer Treffgenauigkeit der Diagnose auf. Die Zeugin hatte dieses am vorherigen Prozesstag auf 6 bis 7 verortet. Der Anwalt möchte wissen, ob sich diese Selbsteinschätzung auf damals oder heute beziehe. Die Zeugin sagt aus, dass sie damals vielleicht einen Punkt höher gelegen hätte. Es handle sich um eine Momentaufnahme, in der sie den Probanden in einer bestimmten Zeit erlebe. In der Fachdiagnose gebe es immer Nuancen in der Einschätzung. Pi mal Daumen tue sich da aber nicht viel.
Auf die Frage von Wolfgang W.s Verteidigerin RAin Rueber-Unkelbach, ob die Zeugin heute bei einem ähnlichen Fall mit denselben Methoden die Begutachtung durchführen würde, erklärt D., dass sie einige Dinge anders machen würde. Man könne das nicht so einfach vergleichen; es gebe heute andere Möglichkeiten und Erfahrungen. An den Krankheitsbildern an sich habe sich hingegen wenig geändert. Außerdem sei zu bedenken, dass sich diese im Laufe des Lebens ändern können.
Die Zeugin wird unvereidigt entlassen. Der VR gibt den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, Erklärungen zur Zeuginnenvernehmung abzugeben. RA Grassl sieht im Anruf von Paul-Ludwig U. einen Versuch, die Zeugin zu manipulieren. Diese bestreite das, der Vorwurf bleibe jedoch im Raum. Marcel W.s Verteidiger RA Miksch hebt auf die Manipulationsfähigkeit von U. ab, der Mitangeklagte und Ermittlungsbehörden damit beeinflusst habe. Für RA Picker hat sich die Verschmitztheit zur Verschlagenheit entwickelt. Die Zeugin habe außerdem einen zu kurzen Zeitraum gehabt, um den Angeklagten richtig einschätzen zu können. RA Mandic beklagt, man verliere sich im Fachchinesisch und komme nicht weiter. U. habe das klug gemacht: Ein Glaubwürdigkeitsgutachten komme bei ihm an seine Grenze, weil das Instrument für andere Fälle entwickelt worden sei.
Thomas N.s Verdacht: Wird die Gruppe bespitzelt?
Im weiteren Verlauf des Prozesstages werden Aufnahmen aus der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) gemäß der Senatsverfügung vom 23. September 2021 abgespielt. Das dritte Gespräch aus dieser Reihe betrifft ein Telefonat zwischen den Angeklagten Thomas N. und Steffen B. vom 12. Februar 2020 um 7.20 Uhr. Das rund siebeneinhalbminütige Gespräch wurde also nach dem Treffen in Minden aufgenommen.
Darin äußert der Angeklagte Thomas N. den Verdacht, dass bei Paul-Ludwig U. „hinten und vorne was nicht stimmt“. Sein Verdacht begründet sich zum einen darin, dass U. auf der Rückfahrt im Auto von Minden angeblich verfolgt wurde, obwohl er ursprünglich mit dem Zug habe zurückfahren wollen. Thomas N. fragt, woher die Verfolger das hätten wissen können. Zum anderen habe N. beobachtet, dass am Freitag vor dem Treffen [07. Februar 2020] um 14 Uhr ein Auto gegenüber seinem Haus [in dem das Treffen stattfand] abgestellt wurde. Angeblich habe es eine Panne gehabt. Dieses Auto sei drei Stunden nach dem Treffen der Gruppe im Dunkeln abgeholt worden. N. hat den Verdacht, dass ihr Treffen abgehört worden sein könnte. Er befürchtet, dass die Observation auch in seiner Wohnung stattgefunden haben könnte. N. sagt jedoch auch, er traue Paul-Ludwig U. nicht zu, dass er wegen „einer Lappalie“ eine Kamera mit sich geführt habe. Den Verdacht gegen U., erwähnt N., habe er bereits „Giovanni“ [Werner S.] mitgeteilt.
Sein Gesprächspartner Steffen B. gibt sich wortkarg und verwundert, fragt punktuell nach der Einschätzung von N. und will ebenso in Kontakt mit Werner S. treten. Thomas N. rät dazu, U. aus jeder Gruppe zu entfernen, die Chats zu löschen und U. außerdem aus der „Bruderschaft Deutschland“ zu werfen. „Paul wird beobachtet“, ahnt N. Deshalb müsse man in der Gruppe nun auch auf anderen Kanälen miteinander kommunizieren, jedenfalls nicht mehr über Telegram. Er wolle mit Werner S. telefonieren, jedoch nicht über WLan, sondern über Kabel [weil das seiner Meinung nach schwerer abzuhören ist]. Es gebe „zu viele Zufälle“. Paul-Ludwig U. stelle ein Sicherheitsrisiko dar. Davor wolle er B. warnen, um gleichzeitig daran zu appellieren, Ruhe zu bewahren und alles zu löschen.
„Wir haben ein Sicherheitsproblem“
Die nächste Aufnahme wurde kurz nach dem Gespräch zwischen Thomas N. und Steffen B. aufgezeichnet. Es handelt sich um ein Gespräch zwischen Thomas N. und Werner S. am 12. Februar 2020 um 10.22 Uhr. Thomas N. steigt ein: „Wir haben ein Sicherheitsproblem“. N. erzählt seinen Verdacht bezüglich der Verfolgung von Paul-Ludwig U. im Auto von Wolfgang W. und die Geschichte mit dem Auto, das gegenüber seinem Haus abgestellt worden sei. Er fragt Werner S., ob jemand gesehen habe, dass U. wie alle anderen sein Handy draußen abgelegt habe. N. rät dazu, Paul-Ludwig U. rauszuwerfen und „auf die paar Euros“ zu „scheißen“. [Vermutlich meint er jene Summe, die U. bzw. die „Bruderschaft“ über U. als Mittelsmann beim Treffen in Minden zugesagt hatte.] „Weg, weg, weg“, bloß keinen Kontakt mehr, drängt N. Werner S. befürchtet, dass es Ärger mit Ralf N. und der „Bruderschaft“ geben könnte. Deshalb überlegt er, dorthin zu fahren. „Nix, nix, nix“, interveniert Thomas N. Werner S. ordnet an, sich aus allen Chatgruppen, auch den externen, zurückzuziehen. Er habe die Admins informiert. Paul-Ludwig U. sei aus allen Kanälen verschwunden: Telegram, Signal und WhatsApp. Thomas N. fügt hinzu, er habe inzwischen versucht, U. anzurufen, ihn aber nicht erreichen können.
„Hochverrat“
Werner S. ist sich noch nicht sicher, dass die Vorkommnisse mit Paul-Ludwig U. zusammenhängen. Er fragt nach, wann die anderen Männer gekommen seien und wer noch Zugriff auf das Haus gehabt habe. S. schildert seinen Eindruck, dass das Auto gegenüber dem Haus dort schon länger gestanden haben könnte. N. erwidert, er habe ein schlechtes Bauchgefühl und deshalb Werner S. am Tag vor dem Treffen bereits zu kontaktieren versucht. Ob andere einen Zugriff auf sein Haus gehabt hätten, wisse er nicht. Für die Anreise sei eigentlich verabredet worden, dass er Paul-Ludwig U. um 16 Uhr am Bahnhof abhole. Da sei dieser jedoch schon bei Markus K. gewesen. In dieser Zeit sei das Auto geparkt worden, obwohl es in der Nähe zwei Reifenhändler für die Behebung der vermeintlichen Panne gebe. Für Werner S. steht fest, dass das „nicht ungestraft“ bleiben könne. Das grenze an „Hochverrat“. Werner S. gibt an, unterdessen mit Tony E. telefoniert zu haben. Dieser sei aufgewühlt und mache Stress. Die „Geburtstagsfeier“ am 21. März sei nun auch storniert, äußert Werner S. mit dem Zusatz, „wenn du weißt, was ich meine“. Er appelliert, dass sich alle, auch die „Bruderschaft“, im Moment etwas zurückhalten müssten. Aktuell sei das alles Spekulation. Er lasse sich was einfallen. Er werde Schritte bei den Anwesenden einleiten. Thomas N. soll seine Leute aus der Gegend briefen. Thomas N. beteuert, dass sein Freund „Thor Tjark“ [= Thorsten W.] kein Problem sei. Den kenne er schon lange. Werner S. verleiht seiner Forderung Nachdruck, dass niemand ein Wörtchen nach außen verlieren solle, „nicht mal raushusten“. Thomas N. befürchtet, dass sein Finanzamt-Problem [angeblich hat der „Reichsbürger“ N. längere Zeit seine Steuern nicht bezahlt] und das Waffenverbot, welches ihm auferlegt werden solle, zum Problem werden könnten. Gleichzeitig bekräftigt er, dass ihr „Vorhaben“ weiter bestehen bleibe. Werner S. teilt mit, dass er erreichbar sei, wenn etwas Neues auf den Tisch kommen sollte.
In seiner Erklärung sieht RA Herzogenrath-Amelung im Anschluss an das Gespräch einen Hinweis, dass hier „hochkarätige Narren“ am Werk gewesen seien, die trotz des Verdachts, dass U. Teil staatlicher Organe sein könnte, an ihrem Vorhaben hätten festhalten wollen. RA Picker sieht in der Stornierung der „Geburtstagsfeier“ am 21. März einen Beleg dafür, dass die Gruppe nicht am 8. Februar gegründet worden sein könne. Die Gründung hätte bei der „Geburtstagsfeier“ stattfinden sollen. RAin Schwaben knüpft daran an und verweist darauf, dass Paul-Ludwig U. vom 21. März hätte wissen müssen. RA Mandic schließt sich seinem Kollegen RA Picker an und beantragt, das Verfahren einzustellen.
Tony E. zweifelte an U.: „Der Mann ist höchst fragwürdig“
Das nächste Telefonat, das abgespielt wird, führt Tony E. am 12. Februar 2020 mit Ralf N. von der „Bruderschaft Deutschland“. Ralf N. ist nach der Trennung von seiner Frau mit dem Umzug beschäftigt. Tony E. bedauert, dass er und Kai [vermutlich Kai K., Gründer der „Bruderschaft“] am Wochenende nicht hätten dabei sein können. Er fragt Ralf N., wie sehr er Paul-Ludwig U. vertraue und was er von ihm wisse. Ralf N. vertraut U. sehr, wie er bekundet, und weiß aus seiner Biografie, dass dieser lange im Knast saß. Tony E. gibt ihm einen Tipp: „Hau ihn raus!“ Er könne jetzt zwar nicht über Details reden, aber es stünden mehrere Sachen im Raum. So zum Beispiel ein „Kameradendiebstahl“ von U. bei Thomas N. und seiner Freundin. Die Bestohlenen seien gut situierte Leute, die er seit Jahren kenne und denen er vertraue. Thomas N. „hackt sich eher einen Finger ab, bevor der lügt“. Außerdem kommt er auf das Auto zu sprechen, das vor dem Gebäude geparkt habe. U. sei außerdem anders als geplant zurückgefahren. „Der Mann ist höchst fragwürdig“, äußert E. Er bedauere, dass er für U. ein gutes Wort eingelegt habe, und grollt, dass er „ihn totschlagen“ werde, wenn er ihn das nächste Mal sehe. Ralf N. verweist auf einen Stammtisch der „Bruderschaft“ am Sonntag. Dort werde er sich U.s Version anhören und überlegen, ob er ihn sofort oder später entferne. Mit dem Diebstahl habe sich das gute Verhältnis ohnehin erledigt. E. möchte sich schnellstmöglich mit Ralf N. treffen, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Im Chat könne man das nicht besprechen. Nebenbei erzählt er auch, dass der „Legionär“ am Wochenende nicht dabei gewesen sei, weil dieser einen Auftrag im Raum Stuttgart erhalten habe.
RA Hofstätter erklärt im Nachgang des Gesprächs, sein Mandant Tony E. beziehe die Observation auf die Vergangenheit von Paul-Ludwig U. Außerdem stelle er den „Kameradendiebstahl“ als Problem in den Vordergrund. Beides spricht nach Ansicht des RA nicht dafür, dass die Inhalte des Treffens problematisch seien.
Der „Major“ soll Paul-Ludwig U. checken lassen
Als letztes Gespräch des Tages wird ein rund 40-minütiges Gespräch zwischen Tony E. und Werner S. vom 12. Februar 2020 abgespielt. Werner S. beginnt das Gespräch mit einem Späßchen. Tony E. berichtet ihm von einem Treffen in Hamburg mit dem „Major“. Man habe das Wochenende besprochen. Der „Major“ lasse U. checken, und am Wochenende wisse E., ob U. sauber sei oder nicht. Werner S. interveniert. Sauber könne man bei U. nicht sagen. Vielmehr „Arschloch“. Der Vertrauensbruch sei da. Tony E. will die Zugehörigkeit von U. [zur Gruppe] abhaken. Diese sei Geschichte. Der „Major“ habe daran erinnert, dass nach der Demonstration in Berlin eine Frau bei Werner S. zu Besuch gewesen sei. Es sei dann beim Bürgermeisteramt in Hamburg eine Anfrage des LKA Baden-Württemberg angekommen. Beim Bürgermeisteramt sei eine Frau zuständig, über die der „Major“ von so etwas erfahre.
Der Verdacht erhärtet sich für Werner S. und Tony E.
Tony E. erzählt, dass Thomas N. darum gebeten habe, U. kein Haar zu krümmen. Werner S. erkundigt sich nach dem Telefonat mit Ralf N. Tony E. gibt an, dass sich die „Bruderschaft“ am Sonntag treffen werde und Ralf N. im höchsten Maße über den Diebstahl entsetzt gewesen sei. Er (E.) habe sich N. gegenüber dafür eingesetzt, dass U. nichts geschehe und man sich in Kürze treffe. Außerdem habe Thorsten K. gesagt, so E., dass U. vom Staat nicht einfach so Geld erhalte, ohne eine Gegenleistung zu liefern. Werner S. sieht darin einen weiteren Beleg für U.s Spitzeltätigkeit. Alles passe zusammen, fasst Tony E. zusammen. Werner S. sagt, er gehe aktuell extra nicht auf Telegram, damit kein Theater entstehe. Marion G. habe auf die Sache reagiert. Es seien dann 57 Nachrichten innerhalb von drei Stunden in der Gruppe geschrieben worden. Auf einmal wolle man dort wissen, was los ist. [Zuvor hatte sich S. in mehreren Telefonaten über mangelnde Aktivitäten in der Gruppe beschwert.] Werner S. kündigt an, sich nun etwas zurückzuziehen.
Frust macht sich breit: Viel Aufwand für wenig Ertrag
Die beiden beraten kurz, welche anderen Kanäle man zur Kommunikation nutzen könnte. Werner S. redet sich den Frust von der Seele. Das sei nun die Ausbeute von 2015 bis 2020, von sechs Jahren. Man habe versucht, auf Biegen und Brechen etwas aufzubauen, dazu Vorbereitungskurse zu veranstalten, etwa zu Abwehrtechniken, habe viel Zeit und Geld investiert. Aber alle seien noch „satt“ und würden sich nicht bewegen. Die Leute könnten ihm den Buckel runterrutschen, schimpft Werner S. Er wolle weitermachen, aber nur mit ein paar wenigen Leuten, die er seit fünf, sechs Jahren privat kenne. Darunter falle neben Tony E. auch Frank [H.]. Tony E. lobt er, da er sich trotz Arbeit, Kindern und knapper Kasse engagiere. „Das ist Vorbereitung zum Widerstand“, sagt Werner S. Von anderen höre er nur Ausreden und sehe wenig Bereitschaft, am Wochenende mal 150 Kilometer zu fahren. Es sei aber auch nicht alles schlecht gewesen. Er habe tolle Leute kennengelernt, fühle sich fitter und habe Material, von dem er hofft, dass er es nie brauchen werde. Aber zeitlich und psychisch sei das ein hoher Einsatz. Man brauche eine Gruppe von 40 bis 50 Leuten, auf die man sich verlassen könne. Wenn diese aber bundesweit verstreut seien, bringe das nichts. Man habe Leute von Mecklenburg bis Garmisch. Selbst in einem ruhigen Gespräch mit Frank H. und Marcel W. habe man das Problem erörtert, es aber nicht hinbekommen, obwohl man nur 100 Kilometer voneinander entfernt wohne. Er verstehe es nicht. Das sei Plan A gewesen. Jetzt komme Plan B, sich zurückzuziehen. Tony E. stimmt ein. Er mache in seinem kleinen „Mikrokosmos“ weiter und wolle diesen weiter ausbauen. „Auf Schlimmste vorbereitet sein, aufs Beste hoffen“, gibt er als Devise aus. Und: „Besser agieren als reagieren“. Beide sind sich einig: viel Aufwand für wenig Ertrag.
Werner S. schimpft auf die „Drecks-Neonazi- und Hool-Vergangenheit“. „Ich bin nicht der tätowierte Vollpfosten, der sein Leben lang gesoffen und rumgeschlägert hat.“ Er sieht sich eher als gut sortiert, versuche mit Ex-Soldaten etwas aufzubauen, aber insgesamt bringe das nichts. Da konzentriere er sich lieber auf das Geldverdienen, das private Leben und die Tiere, bevor er sich jeden Tag krummbiege und „nur Shit“ ernte.
„Von Kameradschaft null Spur“
Werner S. steigert sich weiter hinein in seinen Frust, er sieht sich im Widerstand im eigenen Land. Man mache mit ihnen, was man wolle. Man müsse aufpassen, was man heute poste. Man werde durchsucht, und dann bekomme man etwas angehängt. Wenn es drauf ankomme, sei man auf das Vertrauen angewiesen. Aber: „Von Kameradschaft null Spur.“ Es gebe „nur eine Handvoll, und wenn das die Ausbeute ist…“. Werner S. fragt, wo man „deutsche Werte“ noch außerhalb des Internets finde: Fleiß, Disziplin, Aufrichtigkeit? Sich zu vernetzen, das gehe schnell, aber das Vertrauen fehle. „Sprüche kann ich jeden Tag machen“.
Tony E. stimmt zu. Es sei ein „Spiegelbild der Gesellschaft“ und „nur noch lächerlich“. Werner S. beklagt sich über Leute wie Tommy L. [aus der Bodenseeregion], der viele Leute um sich sammle, aber auch nichts umsetze. Was bringe es, 500 Leute in der Republik verstreut zu sammeln, fragt er. „Je mehr Mitglieder, desto wichtiger werde ich“ [als Anführer], unterstellt er andere Motive. Außerdem kritisiert er die Leute, die viel reden, aber nichts auf die Reihe bekämen und sich in Ausreden flüchteten.
Nicht der beste Eindruck
Über Frank H. sagt Werner S., dieser sei mit seinen 61 Jahren auch nicht mehr der, der er mal gewesen sei. Er hinterlasse nicht überall den besten Eindruck. Man könne doch nicht mit 15 Leuten nach Nürnberg auf die Reichstagstreppe fahren, und dann habe man Tage später die Kriminalpolizei bei sich stehen. „Wie hohl sind die Leute?“ Werner S. kommt zum Schluss: „Ich kann damit nichts mehr anfangen, ich bin durch.“ Tony E. pflichtet bei. Es gebe Leute wie Sören, die sich abrackerten, und dann Leute wie Marcel W., die auf dem Bau erst bei besseren Wetter wieder anfangen würden zu arbeiten, obwohl es mehr als genug zu tun gebe. Als Werner S. seine Tirade beendet hat, atmen beide durch. Man sei gezwungen, sich nach dem Wochenende zurückziehen, so Tony E. Enttäuscht zeigt sich Werner S. auch von „Marcello“ [Marcel L. von der „Freikorps“-Landesgruppe BaWü], der sich wochenlang nicht gemeldet habe. Jetzt aber, wo er vom Streit mit Paul-Ludwig U. erfahre, komme er wieder an. S. wirft L. vor, mit dem Kopf nicht die ganze Zeit bei der Sache gewesen zu sein. Das Gespräch endet relativ zügig, da Tony E. dringend auf die Toilette muss.
Die Verfahrensbeteiligten erhalten die Gelegenheit für Erklärungen. RA Herzogenrath-Amelung findet das Gespräch aufschlussreich. Werner S. sei seit 2014/2015 mit der politischen Entwicklung nicht mehr einverstanden gewesen. Die Bilanz falle „geradezu katastrophal aus“. Der RA kann keine Planung für Mord oder Totschlag erkennen. Werner S. habe keine Veranlassung gesehen, seine Sachen zu packen und nach Italien zu fliehen. RA Siebers verweist darauf, dass in dem Gespräch gesagt wurde: „Der Geburtstag fällt aus.“ RA Berthold erkennt in dem Gespräch, dass für Werner S. der Vertrauensbruch durch U. ein großes Problem gewesen sei. Er scheine sich aber nicht verfolgt oder beeinträchtigt zu fühlen. Es sei nicht um konkrete Planung und deren Abbruch gegangen, sondern allein um die Deaktivierung von Chatgruppen. Für den RA höre sich das so an, als sei hier kein Terror geplant gewesen. Die Anklage könne seiner Meinung nach so nicht aufrechterhalten werden.
Der VR kündigt an, dass in der kommenden Woche Dr. W. vernommen werde, ein weiterer Gutachter von Paul-Ludwig U. Außerdem müsse Paul-Ludwig U. den Gerichtssaal von nun an über den Haupteingang betreten. Den anderen Eingang dürfe er nicht mehr nutzen.